50 spannende Relikte der Stadtgeschichte hat Autorin Heike Thissen mit Kennern der Regionalgeschichte im Werk „Memminger Geheimnisse“ zusammengetragen. In einer Serie stellen wir einige Kapitel vor. Heute: der Epitaph.
Ob Jodokus Gay (k. A.–1512) wirklich sechs Finger an seiner rechten Hand hatte und unter so genannter Polydaktylie litt? Oder ob der Steinmetz, der das Epitaph aus Solnhofener Stein mit einer Ritzzeichnung des Toten versah, sich einfach verzählt hat? Dieses Rätsel wird sich nicht lösen lassen. Fest steht nur: An der rechten Hand, mit der Gay auf seinem Grabstein in der Martinskirche einen Kelch hält, sind fünf Finger zu sehen plus ein Daumen, der den Fuß des Gefäßes von hinten umschließt. Und Pfarrer Ralf Matthes schmunzelt immer noch darüber, wenn er vor dem Grabstein in der Chorraumwand steht. Durch Zufall hatte er den sechsten Finger einst entdeckt. Schließlich kennt er sich hervorragend in dem Gotteshaus aus und weiß auch, wer Jodokus Gay war und welche Rolle er zu seinen Lebzeiten in der Stadt spielte.
Was bekannt ist über Jodokus Gay
„Wir wissen nicht viel über das Leben des Jodokus Gay, das er geführt hat, bevor er nach Memmingen gekommen ist. Eigentlich ist nur bekannt, dass er aus Günzburg stammte. Aber über seine Zeit hier in der Stadt wissen wir sehr viel“, beginnt Ralf Matthes zu erzählen. Dass Gay in der Memminger Geschichtsschreibung kein unbeschriebenes Blatt ist, liegt daran, dass er die Rechte der Kirche gegenüber der Stadt vehement vertrat. Und selbst gegenüber geistlichen Würdenträgern übte er sich nicht gerade in Zurückhaltung. So ist in den Akten nachzulesen, dass er einmal dem Präzeptor des Antoniterklosters, nachdem dieser ihn zurechtgewiesen hatte, erklärte: „Ihr habt mir nichts zu befehlen, ich werde Euch nicht gehorchen.“
Vermutlich wohnte der Prediger in der Fuggergasse
Nachdem er zuvor in Köln promoviert hatte, kam er zwischen 1486 und 1489 in die Welfenstadt. Wenige Jahre zuvor hatte die Familie Vöhlin – die erfolgreichste Handels- und Patrizierfamilie der damaligen Freien Reichsstadt – eine Predigerstelle in der St. Martinskirche eingerichtet. Sie besetzte diese mit Doktor Jos, wie Jodokus Gay meist genannt wurde, nachdem er eine Probepredigt gehalten hatte. Vermutlich bezog er das Haus in der Fuggergasse, das zu seiner Prädikantur gehörte.
An diese Regeln musste sich ein Prediger halten
Als Prediger jener Zeit musste er sich dabei an bestimmte Regeln halten, wie Familie Vöhlin mit der Stiftung der Stelle urkundlich hochoffiziell bestimmt hatte: „Zu Chor zu gehen, wie die anderen Kapläne, solle der Prediger nicht verbunden sein; […] Er solle das Volk weder auf der Kanzel noch sonst wider pfarrlichen Gehorsam, Recht und Gerechtigkeit bewegen oder widerspänstig (sic) machen, sondern dem jeweiligen Kirchherrn zu St. Martin getreu und seiner pfarrlichen Rechte unschädlich sein.“
Wo sich Rat und Gemeinde gegenseitig die Treue schworen
Das Volk widerspenstig machen durfte er nicht. Aber selbst widerspenstig sein, das durfte er sehr wohl. „Es sind mehrere Ereignisse überliefert, bei denen er sich Auseinandersetzungen mit dem Rat der Stadt geliefert hat“, weiß Ralf Matthes. So war es in Memmingen bereits im 15. Jahrhundert seit Langem üblich, dass Rat und Gemeinde sich jedes Jahr am 1. Mai in der Augustinerkirche – der heutigen St.-Johann-Baptist-Kirche – gegenseitig die Treue schworen. Gay jedoch erkannte darin eine Verletzung der Heiligkeit des Ortes. Also protestierte er dagegen und war damit zunächst erfolgreich: 1486 fand die Zeremonie im Salzstadel statt. Erst 1491 erlaubte Bischof Raimund von Gurk (1435–1505), der als päpstlicher Legat die Stadt besuchte, offiziell wieder, der Eid dürfe entweder am ursprünglichen Ort oder in einer anderen Kirche abgehalten werden.
Jodokus Gay starb am ersten Adventssonntag 1512
Mit diversen anderen Streitigkeiten hielt Jodokus Gay seine Anwälte und die seiner wechselnden Gegenseiten auf Trab – darunter den Bischof von Augsburg, den Erzbischof von Mainz und den römisch-deutschen König. Gay starb am ersten Adventssonntag im Jahr 1512. Außer auf dem Grabstein, auf dem sechs Finger seine rechte Hand zieren, ist Gay auch noch im Chorgestühl in Holz verewigt. Dort hält er keinen Kelch, sondern eine Bibel in seiner rechten Hand – die hier übrigens nur fünf Finger zählt.
Das Buch
Die „Memminger Geheimnisse“ erscheinen in Kooperation zwischen der Mediengruppe Allgäuer Zeitung und dem Bast Medien Verlag. Das Hardcover hat 192 Seiten, ist durchgehend bebildert und kostet 24 Euro. Erhältlich ist es in den Geschäftsstellen der Allgäuer Zeitung sowie im Buchhandel. ISBN: 978-3-911514-00-2
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