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Einsatzende in Afghanistan: "Als wenn ein Stein von der Seele fällt"

Bundeswehr

Einsatzende in Afghanistan: "Als wenn ein Stein von der Seele fällt"

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    Soldaten der Bundeswehr steigen aus einen Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst ankommen. Am Vorabend war der Einsatz nach fast 20 Jahren beendet worden.
    Soldaten der Bundeswehr steigen aus einen Transportflugzeug vom Typ Airbus A400M der Luftwaffe. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistan-Einsatzes sind auf dem niedersächsischen Fliegerhorst ankommen. Am Vorabend war der Einsatz nach fast 20 Jahren beendet worden. Foto: Hauke-Christian Dittrich, dpa

    Der Staub aus Masar-i-Scharif haftet noch an den Kampfstiefeln: Im beigen "Dreifarbflecktarn" der Afghanistan-Truppe springen die letzten 264 Soldaten des deutschen Einsatzkontingents "Resolute Support" im niedersächsischen Wunstorf auf den Boden der Heimat. Drei Transportflugzeuge vom Typ A400M der Luftwaffe sind am Mittwoch fast im Minutentakt gelandet.

    Seit Stunden warten vor dem Eingang Angehörige. "Abholkommandos", sagt eine Soldatin und lächelt. Frauen warten auf ihre Männer, junge Männer auf ihre Freundin. Wegen der Corona-Pandemie verzichtet die Bundeswehr auf einen großen Auflauf beim Appell. So bleiben die Familien und Freunde Zaungäste. Später fließen Tränen, es gibt Jubelrufe.

    Als einer der Ersten springt Brigadegeneral Ansgar Meyer aus einer der grauen Maschinen, letzter deutscher Kommandeur in Afghanistan und von September an der Mann an der Spitze des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Calw. "Mission accomplished. Sie haben ihren Auftrag erfüllt", ruft er angetretenen Soldaten zu.

    Ende des Einsatzes mit vielen Emotionen verbunden

    Meyer erwähnt den Aufbau und die Unterstützung der afghanischen Streitkräfte und den nun erfolgreich abgeschlossenen Rückzug. Das Ende des Einsatzes sei mit vielen Emotionen verbunden. Wichtig sei, dass alle gesund und munter zu Hause seien. "Das ist, als wenn ein Stein von der Seele fällt", sagt Meyer vor Journalisten. Er selbst werde jetzt drei oder vier Tage durchschlafen und auch sein kleines Enkelkind erstmals sehen. Für eine genaue Bilanz des Einsatzes sei es noch zu früh.

    Afghanistan ist das Land, in dem die Bundeswehr kämpfen lernen musste - und Tod sowie Verwundung an Körper und Seele erlebte. 59 deutsche Soldaten verloren ihr Leben, davon 35 bei Gefechten oder Anschlägen. Mehr als 12 Milliarden Euro kostete der Einsatz.

    Rückzug im Eiltempo organisiert

    "Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt", hatte SPD-Verteidigungsminister Peter Struck 2002 erklärt. "Die neuen Risiken kennen keine Grenzen." Als Reaktion auf die islamistischen Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA wurden Einsatzgebiete bis weit hinter den europäischen Horizont verlegt. Auf Drängen der neuen US-Regierung unter Präsident Joe Biden musste nun ein Rückzug im Eiltempo organisiert werden.

    "Ich glaube nicht, dass der Einsatz umsonst war", sagte der letzte Kommandeur. Der Erfolg sei an dem vom Bundestag gegebenen Auftrag zu messen: Stabilisierung, den Aufbau von Streitkräften und die Beratung. "Ich glaube, die Bundeswehr ist in Afghanistan erwachsen geworden, weil wir erstmalig mit Gefechtssituationen, die auch bei uns zu Gefallenen und Verwundeten geführt haben, konfrontiert wurden." Das habe geprägt und zu einem Umdenken geführt.

    "Die Sicherheitslage ist im Augenblick fragil. Das kann man nicht wegdiskutieren", so Meyer. "Gerade im Norden, da wo wir eingesetzt waren, ist es den Taliban gelungen mit einem unglaublichen Momentum Gelände zu gewinnen und mit einer professionellen Informationskampagne die Sicherheitskräfte zum Teil so zu verschrecken, dass sie gar nicht mehr gekämpft haben, sondern einfach aufgegeben haben."

    Ordnung in Afghanistan bröckelt

    Mit dem geordneten Abzug der Bundeswehr und anderer Nato-Truppen begann jegliche Ordnung in Afghanistan zu bröckeln, wie im Land festgestellt wird. Und das in für viele unerwarteter Geschwindigkeit. Seit Anfang Mai haben die militant-islamistischen Taliban in einer Blitzoffensive rund 90 der 400 Bezirke im Land neu erobert. Die meisten Experten schätzen, dass die Islamisten mittlerweile rund die Hälfte des Landes kontrollieren. Mehrere Provinzhauptstädte haben sie mittlerweile umzingelt. Auch an Kabul rücken sie heran.

    Nicht wenige Bezirke fielen ohne einen einzigen Schuss. Die Taliban sind Meister psychologischer Kriegsführung geworden. Sie schicken Älteste, um die angesichts des Abzugs der internationalen Truppen ohnehin schwer demoralisierten Regierungssoldaten zur Aufgabe zu überreden. Man habe die Supermacht USA besiegt, sollen sie ihnen ausrichten lassen - sie würden doch nicht denken, dass sie sich ihnen noch lange widersetzen könnten?

    In manchen Provinzen hält die Regierung lediglich noch drei oder vier Bezirke, Provinzräten ist am Telefon die Verzweiflung anzumerken. Wenn es in diesem Tempo weitergehe, sagen sie, falle ihre ganze Provinz in wenigen Tagen.

    Militärischer Vormarsch der Taliban

    Den strauchelnden Sicherheitskräften springen nun altbekannte Gesichter zur Seite, um den Taliban-Vormarsch zu stoppen: ehemalige Kriegsfürsten, die im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre Teile des Landes in Schutt und Asche legten. Sie haben begonnen, ihre Anhänger zu mobilisieren und sich den Sicherheitskräften anzuschließen - auch auf Einladung des neuen Verteidigungsministers.

    Mit dem militärischen Vormarsch der Taliban schwinden auch die Hoffnungen auf eine politische Lösung des Konflikts. Jüngst tauschte sogar Chalid Nur, Mitglied des Verhandlungsteams der Regierung bei den Friedensgesprächen mit den Islamisten im Golfemirat Katar, den Anzug mit Uniform und fuhr im Norden Afghanistans bewaffnet an die Front. Afghanen werteten dies als Zeichen dafür, dass die Verhandlungen de facto gestorben sind.

    Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ziehen

    In Deutschland fordern Verteidigungspolitiker und auch die Wehrbeauftragte Eva Högl, eine Bilanz des Einsatzes zu ziehen - auch als Lehre für andere noch laufende Engagements wie im westafrikanischen Mali. Der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Generalleutnant Erich Pfeffer, bescheinigt den angetretenen Soldaten am Mittwoch, ihren Auftrag in herausragender Weise erfüllt zu haben. Die Soldaten drängeln. Die Familien warten. Nach dem Appell wird die Flagge des deutschen Einsatzkontingents eingerollt, in einen schwarzen Sack gesteckt und abgestellt - es ist das militärisch formale Ende des Afghanistan-Einsatzes.

    (Autor: Carsten Hoffmann und Veronika Eschbacher)

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