Sein Job gilt als einer der gefährlichsten Schleudersitze, die Berlin zu bieten hat. Und dennoch ist ausgerechnet der Bundesverteidigungsminister seit Jahren populärster Politiker der Republik. Boris Pistorius verkörpert für viele Menschen eine schwer zu greifende Hoffnung. Doch wäre der Kanzlerkandidat der Herzen tatsächlich ein guter Regierungschef? Oder könnte die Seifenblase auch ganz schnell zerplatzen, wenn es ernst wird?
Wer das Phänomen Pistorius verstehen will, muss den Mann dort erleben, wo er sich zu Hause fühlt. Das in die Jahre gekommene Fußballstadion des VfL Osnabrück an der Bremer Brücke ist wie sein prominentester Fan: wenig Glamour, dafür umso mehr Bodenständigkeit. Pistorius ist gerne Gast auf der Tribüne, trägt dann selbstverständlich VfL-Schal und wirkt dabei, anders als viele seiner Kollegen aus der Politik, nicht verkleidet. Die Leute nehmen diesem Mann ab, dass er einfach gerne mal bei Bratwurst und Bier ein Fußballspiel anschaut, auch wenn der VfL inzwischen mal wieder in den Niederungen der 3. Liga herumkrebst.
Boris Pistorius vs Scholz: Pistorius muss Bodenständigkeit nicht spielen
Die Volksnähe muss der Mann, der mit seinen zwei Brüdern im Arbeiterviertel Schinkel aufgewachsen ist, nicht spielen. Das kommt auch in seinem Hauptberuf an: Als Chef der Bundeswehr hat sich der Niedersachse schnell Ansehen erarbeitet. Klar, am Anfang genügte es schon, dass Pistorius nicht Christine Lambrecht war. Doch schon bald spürten sie in der Truppe, dass sich der neue „Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt“, wie der Verteidigungsminister im Bundeswehrsprech genannt wird, tatsächlich für die Belange der Soldatinnen und Soldaten interessiert.
Pistorius weiß, worauf es ankommt, wenn man hier akzeptiert werden will. Und das heißt eben, weder alles besser wissen zu wollen, noch sich anzubiedern. Weil er keine Angst davor hat, etwas falsch zu machen, macht er Vieles richtig. Dabei hat sich der SPD-Politiker durchaus mächtige Gegner innerhalb des Apparates gemacht, einflussreichste Posten neu besetzt. Er stellt sich hinter seine Truppe, fordert sie mit seiner forschen Art aber auch - etwa, als er im Alleingang verkündete, die Bundeswehr werde eine Brigade mit 4000 Soldaten dauerhaft nach Litauen entsenden, um dort die Nato-Ostgrenze zu schützen. Das klang entschlossen und machte bei den Partnern im Verteidigungsbündnis durchaus Eindruck. Intern allerdings blieben vor allem Irritationen. Eine Antwort darauf, wie das logistisch und personell funktionieren soll, ist Pistorius jedenfalls bis heute schuldig geblieben.
Droht Pistorius als Kanzlerkandidat der SPD das Schicksal des Martin Schulz?
Genau an solchen Punkten setzen Kritiker an. Seine Praxistauglichkeit wird der Publikumsliebling erst beweisen müssen, sollte die SPD tatsächlich auf ihn als Kanzlerkandidat setzen. Ist er vielleicht doch besser in der zweiten Reihe aufgehoben? Viele Sozialdemokraten erinnern an den legendären „Schulz-Zug“, der ein paar Monate lang mit atemberaubendem Tempo durch Deutschland gebraust war, doch am Ende als Bimmelbahn in den Zielbahnhof stotterte.
Das Desaster des erst gefeierten und dann vom Hof gejagten Martin Schulz bei der Bundestagswahl 2017 lässt sich allerdings nur bedingt mit der Situation von Pistorius vergleichen. Anders als Schulz hat er schon gezeigt, dass er im Berliner Haifischbecken überleben kann, Stichwort Schleudersitz. Zudem ist die Strecke bis zum Wahltag im Februar nicht so elend lang wie damals. Nach Weihnachten bleiben bloß ein paar Wochen Wahlkampf. Und natürlich müsste Pistorius dann als Kanzlerkandidat plötzlich Fragen beantworten, auf die er womöglich heute noch nicht vorbereitet ist. Wie will er die Wirtschaft wieder in Schwung kriegen, welche Lösungen hat er in der Migrationspolitik, was wird aus dem Bürgergeld und wie lassen sich die Haushaltslücken schließen? Und nicht zuletzt: Wie passt seine klare Haltung zur militärischen Unterstützung der Ukraine zur Haltung großer Teile der SPD?
Bilanz von Boris Pistorius bisher: Als Oberbürgermeister und Minister hat er geliefert
Klar, der 64-Jährige müsste sich dann schnell in viele neue Themen einarbeiten. Aber dass er kein politisches One-Hit-Wonder ist, hat er bereits als Oberbürgermeister von Osnabrück und Innenminister in Niedersachsen bewiesen. Und: Er wäre uneitel genug, um sich für Themengebiete, in denen er selbst nicht liefern kann, starke Köpfe an seine Seite zu holen. Hinzu kommt: Anders als Schulz damals müsste Pistorius es ja nicht mit einer halbwegs populären Amtsinhaberin Angela Merkel aufnehmen, sondern mit einem in weiten Teilen der Bevölkerung eher geduldeten als geliebten Oppositionschef Friedrich Merz. Dem CDU-Vorsitzenden dürfte ein Kandidatentausch der SPD auf den letzten Metern vor der Bundestagswahl jedenfalls mindestens genauso schlimme Bauchschmerzen bereiten wie dem dann in Rente geschickten Kanzler.
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