Viele Fernsehzuschauer werden sich am Dienstagabend gewundert haben. Das also soll diese Juristin sein, über die alle reden? Die seit Wochen als radikale Aktivistin oder gar als Linksextremistin inszeniert wird. Wegen der Abgeordnete von CDU und CSU einen Koalitionskrach in Kauf genommen haben. Nichts davon wollte so recht passen zu jener Frau, die da bei Markus Lanz eine Dreiviertelstunde lang gelassen fast alle Unterstellungen zerplatzen ließ.
Der Fall Brosius-Gersdorf wird über den Tag hinaus wirken
Wohltuend übrigens, dass das ZDF dabei auf das profilneurotische Durcheinanderquatschen mehrerer Studiogäste verzichtete, das Talkshows so oft schwer erträglich macht. Stattdessen entstand ein echtes Gespräch – mit der Erkenntnis, wie absurd das Getöse um Frauke Brosius-Gersdorf im Nachhinein zum Teil erscheint. Gut möglich, dass die 54-Jährige trotzdem keine Bundesverfassungsrichterin wird. Sie selbst deutete ihren Rückzug für den Fall an, dass die Würde des Gerichts Schaden nehmen oder die Regierung in eine existenzielle Krise schlittern könnte. Doch ihre Geschichte wird über den Tag hinaus wirken.
Sie steht für die gnadenlose Oberflächlichkeit, mit der politische Debatten auch in Deutschland immer öfter geführt werden. Durch soziale Netzwerke, durch die wachsende Macht und das strategische Agieren populistischer Meinungsmacher im Hintergrund entfalten sie mitunter eine solche Wucht, dass Personalien wie die Ernennung einer Verfassungsrichterin weggefegt werden, noch bevor die Bürgerinnen und Bürger auch nur die Chance hatten, sich ein objektives Bild zu machen.
Zitate werden vorsätzlich falsch verstanden
Fakten werden zur Auslegungssache, Zitate vorsätzlich falsch verstanden. Und ja, das alles kennen wir – aus den USA des Donald Trump. Dort kann jeder sehen, wie sich eine Gesellschaft verändert, wenn die politische Mitte dem Drehbuch von Demokratieverächtern folgt, deren erklärte Ziele weltweit die Inszenierung eines großen Kulturkampfes, das Schüren von Misstrauen in staatliche Institutionen und die Spaltung der Bevölkerung sind. Die entscheidende Frage, ob eine Juristin geeignet ist für einen Posten am höchsten deutschen Gericht, spielte in diesem Drehbuch jedenfalls kaum eine Rolle.
Viel Nachgeplapper trifft auf wenig Wissen
Mag sein, dass Brosius-Gersdorf das Verbindende, das abwägend Diplomatische fehlt, das dieses Amt eben auch erfordert. Sie selbst räumte ein, bisweilen zu leichtfertig formuliert zu haben, etwa zu einem möglichen AfD-Verbotsverfahren oder zur Corona-Impfpflicht. Das spricht nicht für sie als Kandidatin. Nur linksradikal ist das alles eben auch nicht. Parteien, die über Jahrzehnte im besten Sinne staatstragend waren, haben sich vielmehr von Stimmungsmache, von halben Wahrheiten und glatten Lügen treiben lassen. Viel Nachgeplapper und eine Menge Meinung trafen auf erstaunlich wenig Substanz und Wissen. Da passt es gut ins Bild, dass halbseidene Spekulationen über einen – inzwischen in Luft aufgelösten – Plagiatsverdacht gegen die Juristin zum Notausgang für CDU und CSU wurden, um die Richterwahl abzublasen.
Was bleibt: Für viele Bürger ist Frauke Brosius-Gersdorf nun also diese Frau, die Schwangerschaftsabbrüche bis kurz vor der Geburt möglich machen will und ungeborenen Kindern die Menschenwürde abspricht. Dass das gar nicht stimmt, geht im allgemeinen Geraune unter. Was noch bleibt: Das ungute Gefühl, der demokratischen Mitte entgleite das Land (genau der Eindruck also, den die „Neuen Rechten“ schüren und brauchen), und die bittere Erkenntnis, dass Deutschland nicht gefeit davor ist, in eine Debatten-Unkultur made by Trump abzudriften.

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