Draußen vor dem Reichstagsgebäude scheint an diesem Dienstag die Sonne, als sich drinnen die Katastrophe ankündigt. Im Plenarsaal ruft schrilles Glockengeläut die Abgeordneten zurück auf ihre Plätze. Es ist 10.06 Uhr, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner will das Ergebnis der Kanzlerwahl verkünden. Der einzige Kandidat ist Friedrich Merz, und beim Blick in das Gesicht des CDU-Vorsitzenden schwant den Beobachtern, dass sich hier gerade ein historisches Ereignis anbahnt. Auch Klöckner, die bei der Sitzungseröffnung noch fröhlich ein paar Witze machte, blickt todernst.
Was sie dann verkündet, hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nie gegeben. Sie spricht den ebenso parlamentarisch-nüchternen wie geschichtsträchtigen Satz: „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen nicht erreicht.“ Nur 310 Abgeordnete haben für ihn gestimmt. Keine Mehrheit im ersten Wahlgang, es ist ein beispielloses Misstrauensvotum.
Friedrich Merz wirkt konsterniert, er steht auf, es folgt ein kurzer Wortwechsel mit Unions-Fraktionschef Jens Spahn und dem parlamentarischen Geschäftsführer Steffen Bilger (CDU). Dann verlässt er den Saal. Zurück bleiben fragende Gesichter und eine ratlose Republik.
Selbst Olaf Scholz ist die Aufregung abzulesen
Von der Tribüne blickt die Familie des künftigen Kanzlers fragend in das Plenum. Auch dem geschäftsführenden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sonst nicht für ausdrucksstarke Mimik bekannt ist, ist die Aufregung abzulesen. Auf den Tag genau vor einem halben Jahr zerbrach seine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Der politische Ausnahmezustand sollte nun eigentlich beendet sein. Stattdessen dauert er an. Ja, es entsteht gar ein neuer Ausnahmezustand.

Die Möglichkeit, dass Merz durchfällt, war rein rechnerisch immer gegeben. Nur zwölf Stimmen Vorsprung hat seine Koalition aus Union und SPD für die sogenannte Kanzlermehrheit. Zum Vergleich: Angela Merkel fehlten bei ihrer ersten Wahl über 50 Stimmen aus den eigenen Reihen. Dass es zu einer Niederlage kommen würde, damit hatten trotzdem nur wenige gerechnet – der Kandidat selbst am allerwenigsten. Eine Stunde vorher war Merz noch selbstbewusst und triumphierend lächelnd durch die Reihen des Plenums gegangen, hier ein kurzes Händeschütteln mit seinem Wahlkampfgegner Scholz, dort ein kurzes Gespräch mit den Fraktionsvorsitzenden der Grünen.
Es hätte ein Tag großer Einigkeit werden können. Aber spätestens als Julia Klöckner mit ernster Miene die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen an ihrem Pult versammelt, ist offensichtlich, dass es so nicht kommen wird. Von jetzt an beherrscht eine große Ratlosigkeit die weiteren Stunden. Denn Vorbereitungen für einen zweiten Kanzler-Wahlgang hat keiner getroffen. Das Bundestagspräsidium weiß nicht, welche Fristen gelten und wann Runde zwei überhaupt möglich ist. Am selben Tag, am Mittwoch oder gar am Freitag? Parlamentsverwaltung und Fraktionen konsultieren ihre Juristen wie verunsicherte Kranke ihren Arzt. Am Ende muss das Schloss, wie das Bundespräsidialamt wegen seines Amtssitzes in Schloss Bellevue genannt wird, jeden Ausweg genehmigen.

Schließlich wird eine Variante gefunden: CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke setzen gemeinsam die Geschäftsordnung mit einer Zweidrittelmehrheit außer Kraft, so dass am Dienstagnachmittag über den Kanzler abgestimmt werden kann. Jede längere Verzögerung würde an der Autorität von Friedrich Merz nagen, die ohnehin angeschlagen ist. Aber er braucht die Unterstützung der Linken, um sich aus der Bredouille zu befreien. Eigentlich trennt ein Unvereinbarkeitsbeschluss Linke und CDU. Und so fällt an diesem Tag die Brandmauer der Union nach links.
Kanzlerwahl: Wer waren die Abweichler?
Vor dem zweiten Wahlgang werden die Abgeordneten von Union und SPD nochmals in Sondersitzungen ins Gebet genommen. Ein solches Fiasko darf sich nicht wiederholen, lautet der Tenor. Die Union müsse stehen, appelliert Jens Spahn an die Abgeordneten. Friedrich Merz spricht von Verantwortung. Die Abweichler hätten Deutschland sicher nicht schaden wollen.
In Reihen der Union macht eine Deutung des Debakels die Runde, wonach die Nein-Sager gedacht hätten, es gehe im Bundestag zu wie in den Landtagen. Dort folgt auf den ersten Wahlgang sofort der zweite, ohne dass dafür ein umständliches Gebaren notwendig ist. Ob der Schaden dann für den CDU-Mann kleiner gewesen wäre, ist eine offene Frage. Ein Zählappell bei der Union soll schließlich sicherstellen, dass jeder, der den Kanzler wählen darf, auch da ist. Bei der SPD mahnt auch Lars Klingbeil, der designierte Vizekanzler und Finanzminister, zur Verantwortung und warnt vor der Stärke der AfD.

Trotz der Beschwörungen zur Einigkeit schwebt über allem die Frage: Wer waren die Abweichler? Motive gibt es auf beiden Seiten. Merz war nie beliebt bei der SPD, vor allem nicht beim linken Flügel. Dazu kommt, dass Klingbeil mit seiner harschen Personalpolitik einige vor den Kopf gestoßen hat. Bei den Spekulationen, wer Merz im ersten Wahlgang schaden wollte, fällt auch immer wieder der Name des prominenten Genossen Hubertus Heil. Der scheidende Arbeitsminister ist bei der Vergabe wichtiger Posten in der neuen Regierung leer ausgegangen. „Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung“, ätzt Heil zurück, als er auf diese Unterstellung angesprochen wird. Danach bringt ihn der Fahrstuhl mit anderen Abgeordneten zum zweiten Akt des Dramas in den Plenarsaal.
Aber auch bei der Union gibt es Unzufriedene. Im Vorfeld der Bundestagswahl hat Friedrich Merz durch seine Abstimmung mit der AfD erst den liberalen Merkel-Flügel vor den Kopf gestoßen. Und nach der Wahl irritierte er den konservativen Teil der Partei mit der Lockerung der Schuldenbremse und dem Sondervermögen für Infrastruktur. Hinzu kommen seine manchmal aufbrausende Art und die persönlichen Karrieren, die mit der neuen Regierung enden. Am Ende bleibt alles Spekulation. Wer genau wie votiert hat, wird die Öffentlichkeit wohl vorerst nicht erfahren.
„Es herrschen schon wieder Ampel-Vibes“
Wie zersetzend diese Ungewissheit wirkt, bringt die SPD-Abgeordnete Carmen Wegge aus Landsberg auf den Punkt. „Es herrschen schon wieder Ampel-Vibes.“ Genau das wollten sie eigentlich hinter sich lassen. Das Misstrauen, die bösen Unterstellungen, das „wir gegen die“. Nun liegt auf dem schwarz-roten Bündnis eine schwere Bürde, bevor es seine Arbeit aufgenommen hat.
Manfred Güllner ist der Gründer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, er beobachtet die Bundespolitik schon seit vielen Jahrzehnten, der Vorgang aber macht selbst ihn zunächst ein wenig sprachlos. „Das Gefährliche an diesem Vorgang ist aus meiner Sicht, dass das demokratische System beschädigt wurde. Das ohnehin gering gewordene Vertrauen in die Politik könnte weiter sinken“, sagt er am Telefon und bestätigt den ersten Eindruck: „Für die AfD dürfte das ein weiterer Aufwind sein.“
Die AfD wiederum kostete die Niederlage von Friedrich Merz sichtlich aus. „Das ist so heftig, das hatte ich nicht erwartet. Sich so eine Blöße zu geben“, sagt beispielsweise Bernd Baumann, parlamentarischer Geschäftsführer der Partei. Merz brauche sich nicht wundern, dass er abgestraft worden sei. Dann rattert Baumann runter: Durchlöcherung der Schuldenbremse, 100 Milliarden für die Grünen, keine Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen...
Es werden nun alle möglichen Szenarien durchgespielt. Was, wenn Merz auch im zweiten Wahlgang scheitert? War das nur ein Warnschuss einiger Abgeordneter oder grundlegende Ablehnung? Und noch komplizierter: Was passiert, wenn Merz mehr Stimmen erhält, als die Koalition eigentlich auf sich vereint? Wäre er dann womöglich Kanzler von Gnaden der AfD? Die als vom Verfassungsschutz gesichert rechtsextremistisch eingestufte Partei ist die Meisterin der taktischen Spielchen im Parlament. Auch wenn sie öffentlich eine Wahl von Merz ausgeschlossen hat: Möglich scheint an diesem Tag alles.
Um 15.15 Uhr dann wieder ein schrillendes Läuten. Die Abgeordneten treten erneut zusammen. Es folgt eine kurze Aussprache der parlamentarischen Geschäftsführer, dann beginnt der zweite Anlauf. Die Zuschauerränge haben sich etwas geleert, viele haben das Gebäude bereits verlassen, unter ihnen Alt-Kanzlerin Angela Merkel.
„Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen erreicht“
In der Zwischenzeit bilden sich Grüppchen. Auf der Länderbank blödeln die Ministerpräsidenten miteinander. Einer schießt ein Foto von Boris Pistorius und Armin Laschet, die sich ähnlich sehen. „Bei der Geburt getrennt“, ruft Daniel Günther, Landeschef aus Schleswig-Holstein. Die Stimmung wirkt entspannt, aber das war sie am Morgen auch. Gleichzeitig bietet die Kulisse Momente der Solidarität. Wie diesen: Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz steht von seinem Platz auf und schüttelt seinem Gegenspieler Friedrich Merz die Hand.

Gut eine Stunde nach Beginn der wiederaufgenommenen Sitzung tritt Julia Klöckner ans Mikrofon. Und sie spricht den Satz, den am Vormittag alle erwartet hatten: „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen erreicht.“ Genauer gesagt: Es sind 325 Stimmen, neun mehr als die erforderliche Kanzlermehrheit. Aber es gab auch drei Abweichler.
Was bedeutet dieser stolpernde Weg zur Kanzlerschaft jetzt für Friedrich Merz? Er geht angeschlagen ins Amt, glaubt der Meinungsforscher Manfred Güllner. Er sei schon vorher wenig beliebt gewesen. „Diese Niederlage dürfte zunächst an ihm haften bleiben“, sagt er mit Blick auf den ersten Wahlgang.
Niederlage hin und her: Um 16.15 Uhr also hat Deutschland einen neuen Bundeskanzler. Applaus, stehende Ovationen bei der Union, nochmals ein Handschlag zwischen Olaf Scholz und Friedrich Merz. Dieses Mal kein Solidaritätsbeweis, sondern eine Gratulation. Danach tritt Merz ans Mikrofon. „Frau Präsidentin, ich bedanke mich für das Vertrauen“, sagt er, sichtlich erleichtert. „Und ich nehme die Wahl an.“
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