Spätestens nach dem Tod eines Kleinkindes und eines Mannes in Aschaffenburg, beide erstochen von einem Geflüchteten aus Afghanistan, gibt es bei den Parteien den Konsens, dass der Umgang mit illegaler Migration stärker in den Blick genommen werden muss. Das Thema ist zum bestimmenden dieses Wahlkampfes geworden. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz setzt mit seinem 5-Punkte-Plan den Ton. Ein Blick auf Details:
Hätte es andere Gesetze gebraucht, um das Attentat von Aschaffenburg zu verhindern?
Auch wenn der Auslöser für die politische Diskussion der Messerangriff auf eine Kindergartengruppe war, hat der Fall zumindest zwei Seiten. Zwar handelte es sich bei dem Mann aus Afghanistan um einen Flüchtling, der sich unerlaubt in Deutschland aufgehalten hat. Doch schon jetzt hatten die Behörden alle juristischen Mittel in der Hand, um ihn abzuschieben – sie taten es nicht. Grund ist also erneut ein behördliches Versagen. Um den Mann abzuschieben, hätte es auch keine Verhandlungen mit den Taliban gebraucht, Ansprechpartner ist vielmehr das EU-Land Bulgarien. Dort betrat der Geflüchtete zum ersten Mal europäischen Boden. Laut den Regeln des so genannten Dublin-Verfahrens ist somit Bulgarien für ihn zuständig. Das änderte sich erst, als die bayerischen Behörden und die Bundesbehörde Bamf wichtige Fristen verstreichen ließen. Die bayerischen Ausländerbehörden argumentieren, erst im Juli 2023 von der möglichen Abschiebung erfahren zu haben. Die sechsmonatige Frist für eine Überstellung nach Bulgarien lief am 2. August ab, sodass Deutschland ab diesem Zeitpunkt für das Asylverfahren zuständig wurde. Die Gewerkschaft der Polizei sieht unter anderem das Nebeneinander zu vieler Behörden als eines der grundlegenden Probleme.
Friedrich Merz will die Asylzahlen senken, indem er dauerhafte Grenzkontrollen einführt. Ist das mit europäischem Recht vereinbar?
Im Schengen-Raum sind Binnengrenzkontrollen eigentlich nicht vorgesehen. Die können nur zeitlich begrenzt und maximal über 2,5 Jahre angeordnet werden. „Dauerhafte Kontrollen wären ein Austritt aus dem Schengen-Raum und damit ein Abriss einer zentralen Errungenschaft der europäischen Einigung, die der CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl dereinst angestoßen hatte“, sagt der Konstanzer Migrationsforscher Daniel Thym. „Im Wahlprogramm von CDU und CSU heißt es noch, dass solche Binnengrenzkontrollen in der EU perspektivisch überflüssig werden sollen, wenn die Außengrenzen wirksam geschützt werden. Ich wünschte mir, Friedrich Merz würde dazu weiterhin stehen.“ Was es schon jetzt an den deutschen Grenzen gibt, sind befristete Kontrollen, die Zahl derjenigen, die irregulär nach Deutschland kommen, ist dadurch auch gesunken. Wie die Bundespolizei kürzlich mitteilte, wurden allein in Bayern 10.070 Personen „unmittelbar an der Grenze oder im Zusammenhang mit dem illegalen Grenzübertritt zurückgewiesen oder zurückgeschoben“. Allerdings liegt der deutliche Rückgang der Flüchtlinge in Deutschland vor allem am Rückgang insgesamt in der EU – und damit an den Migrationsabkommen, die die EU mit Ländern wie Tunesien, Mauretanien oder Ägypten geschlossen hat.
Die Union möchte zudem ein Einreiseverbot für alle Menschen ohne gültige Einreisedokumente durchsetzen – auch wenn diese ein Schutzgesuch äußern. Die Zurückweisung gelte „ausdrücklich auch für Personen mit Schutzanspruch“. Ist das möglich?
Zunächst: Ohne stationäre Kontrollen direkt an der Grenze sind Zurückweisungen nicht möglich. Und auch dann sind diese nur erlaubt, wenn das Gegenüber kein Asylbegehren äußert oder wenn für ihn eine zeitweilige Wiedereinreisesperre gilt. Das ist etwa der Fall, wenn jemand zuvor abgeschoben wurde, oder bei Menschen, die aus sogenannten sicheren Herkunftsländern kommen. Letzteres könnte ein Hebel für den Merz-Plan sein, denn Deutschland ist ausschließlich von sicheren Herkunftsländern umgeben. Allerdings sieht die Dublin-III-Verordnung vor, dass Deutschland in so einem Fall den Geflüchteten zumindest kurzfristig aufnehmen müsste, um die Zuständigkeit zu prüfen. Migrationsexperte Thym prognostiziert: „Am Ende entscheiden das die Gerichte.“ Der geschäftsführende österreichische Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) mahnte: „Wenn jeder von uns jetzt einzeln einfach die Zugbrücken hochzieht, dann sind wir alle ärmer und keiner ist sicherer.” Ein Hebel wäre, die Prüfverfahren zu beschleunigen, um die Fristen einzuhalten. Und auch dann stellt sich immer noch das Problem, dass zahlreiche EU-Länder keine Flüchtlinge mehr zurücknehmen. Im Jahr 2024 hatte Deutschland insgesamt in 74.583 Fällen um Überstellung in ein EU-Land gebeten, in 44.431 Fällen stimmten die Partnerländer zu. Tatsächlich überstellt wurde jedoch mit nur 5.827 Menschen nicht einmal jeder Zehnte. Das liegt unter anderem daran, dass einige Länder - etwa Italien - der Rücknahme zwar zustimmen, in der Praxis aber unerfüllbare Bedingungen stellen und damit die Überstellungen fast unmöglich machen. „Man muss bei Abschiebungen an ganz vielen Rädern gleichzeitig drehen – es gibt keine einfache Lösung“, sagt Daniel Thym. „Europa- und Außenpolitik sind nur eine Baustelle, daneben müssen all die hausgemachten Defizite und Probleme angegangen werden, auf die die tragischen Fälle von Solingen und Aschaffenburg ein Schlaglicht warfen. Da liegt in allen Bundesländern viel im Argen.“
Wie reagiert Brüssel?
Dort ist man mindestens verwundert, aber auch besorgt. Denn die EU hatte es im vergangenen Jahr nach jahrelangem Ringen geschafft, sich auf ein gemeinsames Asylrecht zu einigen. Die neuen Regeln sollen spätestens ab Juni 2026 in allen 27 EU-Ländern gelten, unter anderem sollen Asylverfahren beschleunigt und an die Außengrenzen verlagert werden. Auch eine gerechte Verteilung der Lasten innerhalb Europas ist das Ziel. Sollte Merz seine Pläne umsetzen, würde er faktisch Europas Migrationspolitik sprengen.
Die Debatte schlägt hohe Wellen. Aber wird es in dieser Woche überhaupt eine Entscheidung geben über den 5-Punkte-Plan?
Der 5-Punkte-Plan soll am Mittwoch auf der Tagesordnung des Bundestags stehen, allerdings wird zunächst nur darüber diskutiert. Für eine Abstimmung darüber noch am gleichen Tag bräuchte Merz eine Zwei-Drittel-Mehrheit, das ist unwahrscheinlich. Selbst ein Mehrheitsbeschluss wäre aber kurz vor Ende der Legislaturperiode nicht mehr als ein politisches Signal. Denn bis es zu einem Gesetz käme, würde es Monate dauern. Der Entwurf wird üblicherweise zurück in den zuständigen Ausschuss verwiesen, dort wird er beraten, Experten werden hinzugezogen, der Entwurf kommt schließlich wieder zur zweiten und dritten Lesung ins Parlament. Merz brachte deshalb schon seine Richtlinienkompetenz ins Spiel, die er als möglicher Kanzler hätte. In Artikel 65, Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es: “Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.” Allerdings wird dies Richtlinienkompetenz nur sehr selten genutzt, zuletzt durch Olaf Scholz im Herbst 2022, als er den vorläufigen Weiterbetrieb von Atomkraftwerken anordnete. Allerdings schauen sich Gerichte solche Entscheidungen genau an. Und: Sollte Merz in einer wie auch immer zusammengesetzten Koalition auf dieses Instrument angewiesen sein, stünde das Bündnis unter keinem guten Stern.
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