In einer Zeit, als Spitzenpolitiker noch gerne lateinische Sprüche zitierten, um den eigenen Worten mehr Gewicht zu verleihen, lautete eine dieser Weisheiten: respice finem — bedenke das Ende. Dahinter steht der Anspruch, vor dem eigenen Handeln stets zu überlegen, wohin es eines Tages führen könnten. Heute, in einer Ad-Hoc-Demokratie, in der jeder unbedachte Satz das Potenzial hat, die gesellschaftliche Stimmung zu verändern, nehmen sich immer weniger Politiker die Zeit, den zweiten oder dritten Schritt zu überdenken, bevor sie den ersten tun. CDU-Chef Friedrich Merz, obwohl ansonsten ein Mann alter Schule, steht in diesen Tagen für jenen verloren gegangenen Weitblick.

Migrationsdebatte im Bundestag: Immerhin – Wahlkampf im Schlafwagen war gestern
Der Kanzlerkandidat der Union hat sich zu einer Art losen Kanone entwickelt. Selbst die eigenen Leute wissen nicht so genau, wann sich ein Schuss löst — und ob er trifft. Merz bestimmt die Schlagzeilen, das schon. Wo man ihm noch vor ein paar Wochen vorgeworfen hatte, den Wahlkampf zu verschlafen, verkörpert er nun eine Atemlosigkeit, die das Land aufwühlt. Eines aber muss man ihm lassen: Er ist aus der Deckung gekommen, während Olaf Scholz noch damit beschäftigt ist, Schuldige für die unfassbaren Morde von Aschaffenburg zu suchen und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Doch die Rhetorik des Kanzlerkandidaten lässt erahnen, dass ihm all das eher passiert ist, als dass ein durchdachter Plan dahinter steht.
Merz will schaffen, was Merkel und Scholz versäumt haben
Merz will der Kanzler sein, der in der Migrationspolitik endlich das durchsetzt, was die Mehrheit der Bevölkerung schon so lange fordert. Mehr Kontrolle an den Grenzen, härteres Durchgreifen gegen illegale Zuwanderer und Asylbewerber, die unsere Hilfsbereitschaft missbrauchen, mehr Konsequenz bei Abschiebungen. Das alles haben weder Angela Merkel noch Olaf Scholz hinbekommen. Merz will es schaffen und das verdient Respekt. Nur: Er hat sich in den Kopf gesetzt, das alles umzusetzen, noch bevor er überhaupt Kanzler ist. Ohne eigene Mehrheit, ohne andere mit ins Boot zu holen, ohne zu bedenken, wohin all das letztlich führen könnte.
Merz sagte selbst, er werde im Bundestag „all in“ gehen. Ein Begriff aus dem Poker, wo dieses Manöver für einen Spieler oft die letzte Chance bietet, das Blatt noch zu wenden. Und plötzlich wirkt der Mann, der in wenigen Wochen Kanzler werden kann, nicht mehr wie ein Staatenlenker, nicht mehr wie einer, der das Heft in der Hand hat, sondern wie ein halbseidener Zocker. Respice finem. Bedenke das Ende. Wer „all in“ geht, kann auch alles verspielen. Auf dem Spiel, das Merz angezettelt hat, steht aber eben nicht nur seine eigene Karriere, sondern die Wetterfestigkeit unserer Demokratie.
Mit der Asyl-Debatte bricht Friedrich Merz bricht ein Versprechen
Der Poker im Bundestag läuft über zwei Runden. Die zweite folgt am Freitag mit der Abstimmung über einen Gesetzentwurf der Union zur Zuwanderung, der mehr Tragweite hat als die Anträge vom Mittwoch. Es geht nicht allein darum, dass CDU und CSU erstmals die Stimmen rechtsradikaler Demokratieverächter aus der AfD genutzt haben, um sich eine Mehrheit zu beschaffen. Ohne Frage ein historischer Augenblick. Man kann das pragmatisch nennen — oder eben rückgratlos. Merz will potenzielle Koalitionspartner vor vollendete Tatsachen stellen. Das kniffligste Thema schon vorher abräumen. Aber abgesehen davon, dass er damit sein eigenes Versprechen gebrochen hat, nach dem Ampel-Aus nicht auf Zufallsmehrheiten „mit denen da“ (er meinte die AfD-Fraktion) zu setzen, scheint sein Plan auch inhaltlich nicht zu Ende gedacht zu sein.
Merz argumentierte am Mittwoch, er halte lieber aus, dass die AfD nun feixend als Mehrheitsbeschaffer triumphiert, als „ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land weiterhin verletzt, bedroht und ermordet werden“. Er wolle deshalb „aufrechten Ganges das tun, was in der Sache notwendig ist“. Man darf ihm das abnehmen. Offen bleibt, ob das, was am Ende dabei herauskommt, den Tabubruch wert ist. Was, wenn der harte Kurswechsel in der Migrationspolitik von Gerichten kassiert wird? Was, wenn sich nach der Wahl keine Mitstreiter finden, um aus der Symbolpolitik von heute Gesetze von morgen zu machen? Was, wenn große Worte am Ende nur für kleine Taten reichen? Dann hat sich Merz fatal verzockt. Dann hat es sich nicht gelohnt, der AfD ohne Not eine Türe zu öffnen. Dann werden sich noch mehr Menschen enttäuscht abwenden. Die besten Karten im nächsten Poker haben dann andere. Respice finem.
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