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Dießen: Missbrauchsvorwürfe im SOS-Kinderdorf: So viele Betroffene haben sich bis jetzt gemeldet

Dießen

Missbrauchsvorwürfe im SOS-Kinderdorf: So viele Betroffene haben sich bis jetzt gemeldet

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    Das SOS-Kinderdorf in Dießen. Auch hier soll es Fälle von Gewalt an Kindern und Jugendlichen gegeben haben.
    Das SOS-Kinderdorf in Dießen. Auch hier soll es Fälle von Gewalt an Kindern und Jugendlichen gegeben haben. Foto: Dominic Wimmer

    Im Oktober 2021 brachte eine Studie über das SOS-Kinderdorf in Dießen Schreckensnachrichten zutage: Zwei Kinderdorf-Mütter sollen ihre Schützlinge gequält haben, auch von sexuellen Übergriffen ist die Rede. Aus der Untersuchung des Missbrauchsexperten Heiner Keupp (Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs) ging damals hervor, dass die beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen ihnen anvertrauten Kindern "Leid" zugefügt haben. Eine unabhängige Kommission hat die Arbeit aufgenommen. Etliche Betroffene haben sich schon gemeldet. 

    Die Staatsanwaltschaft Augsburg hat längst ihre Ermittlungen aufgenommen und eine unabhängige Kommission unter der Leitung von Professor Klaus Schäfer befasst sich seit März 2022 mit den Vorwürfen. Diese "Unabhängige Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts" mit Sitz in München beleuchtet aber nicht nur mutmaßliche Fälle aus dem SOS-Kinderdorf in Dießen, sondern auch aus anderen SOS-Kinderdorf-Einrichtungen in Deutschland. 

    Kommission stattet SOS-Kinderdorf in Dießen einen Recherchebesuch ab

    "In 40 Tageszeitungen - eben überall dort, wo es SOS-Kinderdörfer gibt - haben wir mittels Anzeigenschaltungen Betroffene aufgerufen, sich bei uns zu melden", berichtet Schäfer im Gespräch mit unserer Redaktion. "Zwischenzeitlich haben wir auch dem SOS-Kinderdorf in Dießen einen Recherchebesuch abgestattet, um uns vor Ort ein Bild zu machen", ergänzt er. Überwiegend Fälle von sexuellen Übergriffen und Gewalt unter den Kindern und Jugendlichen aber auch von Betreuungs- und Fachkräften an ihren Schützlingen seien bislang bekannt. 

    Im SOS-Kinderdorf in Dießen ist in der Studie vom Oktober 2021 von einem "Klima der Angst" die Rede. Die beiden ehemaligen Mitarbeiterinnen werden beschuldigt, von Anfang der 2000er-Jahre an bis etwa 2015 "Kindeswohl-gefährdende Grenzüberschreitungen" begangen zu haben. Von "gemeinsamem Duschen gehen oder von Hygienemaßnahmen, die die Schamgrenzen der Kinder verletzten" ist die Rede. Außerdem soll ein fünf Jahre altes Mädchen allein in einen dunklen Keller gesperrt worden sein, ein Junge habe in Hausschuhen schlafen müssen, weil seine Dorfmutter sie ihm mit Klebeband an den Füßen befestigt hatte. 

    Bereits 2010 hatte es interne Befragungen zu Missbrauch und Gewalt in SOS-Kinderdörfern in früheren Zeiten gegeben. Die beiden Fälle in Dießen waren im vergangenen Jahr von der Organisation, die sich zu einem großen Teil aus Spenden finanziert, selbst publik gemacht worden.

    Rund 160 Meldungen sind bislang bei der Kommission eingegangen

    Professor Klaus Schäfer berichtet, dass sich die Kommission, die aus fünf Mitgliedern besteht, darüber hinaus auch mit Meldungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren beschäftige. Insgesamt seien bislang insgesamt rund 160 Meldungen beziehungsweise Hinweise aus unterschiedlichen SOS-Kinderdörfern auf "grenzüberschreitendes pädagogisches Verhalten" bekannt. 

    Doch was passiert, wenn sich Betroffene bei der unabhängigen Kommission melden? Den Betroffenen werde, nach der ersten Aufnahme aller Daten und Anliegen, ein intensives Gespräch angeboten. Das könne persönlich sein, am Wohnort der Person oder auch an einem neutralen Ort. Aber auch ein Telefongespräch sei möglich. Einige der betroffenen Personen seien auch nur dann bereit, sich zu äußern, wenn eine Vertrauensperson ihrer Wahl sie begleiten könne. Etliche lehnten es auch ab, noch einmal in das SOS-Kinderdorf zurückzukehren, in dem ihnen Schlimmes widerfahren sei.

    Eine unabhängige Kommission beleuchtet auch die Missbrauchsvorwürfe gegen ehemalige SOS-Kinderdorf-Mütter in Dießen.
    Eine unabhängige Kommission beleuchtet auch die Missbrauchsvorwürfe gegen ehemalige SOS-Kinderdorf-Mütter in Dießen. Foto: Thorsten Jordan (Archivbild)

    "Wir richten uns da völlig nach den Wünschen der Betroffenen", so Schäfer. Wichtig sei immer, den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, schließlich werde in einem solchen Gespräch eine traumatische Vergangenheit wieder zutage geholt. "Viele haben ja eigentlich mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber nicht damit noch lange nicht ihren Frieden gefunden", weiß der Professor aus Erfahrung. 

    In Dießen ist kein Beschuldigter mehr im aktiven Dienst

    Wenn der oder die Angeschuldigte noch im aktiven Dienst sei, werde das Dienstverhältnis unverzüglich beendet und das SOS-Kinderdorf könne zivil- oder dienstrechtliche Schritte einleiten. Das sei aber größtenteils nicht der Fall, so Professor Klaus Schäfer, unter anderem Vertreter der Bundesländer am "Runden Tisch Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren". In der Regel seien die Beschuldigten entweder bereits im Ruhestand oder gar verstorben. "Soweit ich weiß ist auch im SOS-Kinderdorf in Dießen keiner der Beschuldigten mehr im aktiven Dienst", fügt Schäfer an. 

    Noch bis Mitte 2024 ist die Kommission, die "absolut unabhängig arbeitet und sich von niemandem hineinreden lässt" mit der Aufarbeitung möglicher Missbrauchs- oder Gewaltfälle in SOS-Kinderdörfern beschäftigt. "Die Berufung der unabhängigen Kommission ist ein konsequenter Schritt von SOS-Kinderdorf, eine kritische Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Alltag in seinen Einrichtungen vorzunehmen. In der Kommission werden wir genau hinsehen und untersuchen, wie SOS-Kinderdorf in der Vergangenheit mit allen Arten pädagogischen Fehlverhaltens umgegangen ist", so Schäfer. 

    Zur Kommission gehört auch ein ehemaliger SOS-Kinderdorf-Bewohner

    Zusammengesetzt ist die fünfköpfige Kommission aus Experten der Sozialpädagogik und des Kinderschutzes und einem ehemaligen Bewohner eines SOS-Kinderdorfs. Betroffene können sich bei der "unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts" unter der Telefonnummer 0160/90786771 oder mit einer E-Mail an info@aufarbeitung-sos.de melden. 

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