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Wahlrechtsreform: Die Politik verliert mit dem neuen Wahlrecht an Bodenhaftung

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Die Politik verliert mit dem neuen Wahlrecht an Bodenhaftung

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    Das Bundesverfassungsgericht hat seine Entscheidung zum neuen Wahlrecht vorgestellt.
    Das Bundesverfassungsgericht hat seine Entscheidung zum neuen Wahlrecht vorgestellt. Foto: Uli Deck, dpa

    Auch die letzte Instanz ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Mit der Korrektur des neuen Wahlrechts beseitigt das Bundesverfassungsgericht zwar einen von zwei schweren Konstruktionsfehlern der Ampelparteien, nämlich die drohende bundespolitische Entmündigung der CSU, die theoretisch zwar alle Direktmandate in Bayern hätte gewinnen können, unter bestimmten Bedingungen aber trotzdem nicht mehr im Bundestag vertreten gewesen wäre. Gleichzeitig allerdings lässt Karlsruhe eine Regelung passieren, mit der die Politik weiter an Bodenhaftung verlieren wird: Ein Kandidat, der seinen Wahlkreis gewinnt, kann sich in Zukunft nicht mehr sicher sein, dass er danach auch im Bundestag sitzen wird.

    Welche Auswirkungen das hat, lässt sich bisher erst erahnen. Ob eine neue Umgehungsstraße gebaut werden soll, ein Unternehmen um seine Zukunft kämpft oder einem Bahnhof die Schließung droht: Für viele Menschen sind die direkt gewählten Bundestagsabgeordneten heute bei Problemen die ersten Ansprechpartner. Das Gefühl, in Berlin gut vertreten zu sein, dort buchstäblich eine Stimme zu haben, schafft Vertrauen in und Akzeptanz für die Politik. Kein Wunder: Ein mit der Erststimme direkt gewählter Abgeordneter ist seiner Region natürlich stärker verpflichtet als jemand, der über die Liste seiner Partei ins Parlament einzieht.

    Geschickte Strippenzieher sind im Vorteil

    Im Bemühen, den Bundestag mit seinen Dutzenden von Überhang- und Ausgleichsmandaten zu verkleinern, haben die Ampelparteien dieses bewährte Prinzip nun mit dem Segen des Verfassungsgerichtes ausgehebelt und die Erststimme entwertet. Eine weitere Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten ist damit vorgezeichnet. Wenn ein gewonnener Wahlkreis keine Garantie mehr für ein Mandat im Parlament ist, werden die aussichtsreichen Plätze auf den Landeslisten der Parteien noch umkämpfter sein. Diese Plätze aber erobern Kandidaten oder Kandidatinnen nicht mit Präsenz und Bürgernähe, sondern mit einer möglichst guten Vernetzung in der jeweiligen Partei. Eine solche Funktionärsdemokratie begünstigt tendenziell die geschicktesten Strippenzieher und ist damit so ziemlich das Gegenteil einer lebendigen Demokratie, wie sie sich die Väter des Grundgesetzes gewünscht haben dürften.

    Über eine wachsende Politikverdrossenheit und niedrige Wahlbeteiligungen sollte sich also kein Politiker der Ampelparteien mehr beschweren – diese Kollateralschäden sind in ihrem Wahlrecht quasi mit angelegt. Anstatt eine Reform, die über mehrere Legislaturperioden halten und wirken soll, im parteiübergreifenden Konsens zu entscheiden, hat die Koalition ihr Wahlrecht mit der Brechstange durchgesetzt. Eine besorgniserregende Entwicklung: Wenn das Ego-Denken der Ampelparteien Schule macht, wird über kurz oder lang jede neue Koalition versuchen, das Wahlrecht nach ihrem Gusto zu verändern. Motto: Wahlfragen sind Machtfragen, und wer die Macht hat, entscheidet, wie gewählt wird.

    Warum keine größeren Wahlkreise?

    Ja, die Materie ist kompliziert, und die CSU hat sich anderen Lösungen lange verweigert – Möglichkeiten, den Bundestag zu verkleinern, hätte es allerdings auch andere gegeben, etwa durch das Vergrößern von Wahlkreisen. So aber ist der Preis, den Deutschland für die Reform zahlt, hoch: Je nach Wahlergebnis kann es künftig Regionen von der Größe zweier Landkreise geben, die überhaupt keinen Abgeordneten mehr in Berlin haben – weil der Direktkandidat nicht zum Zug kommt und die Listenkandidaten der anderen Parteien auf den jeweiligen Landeslisten zu weit hinten platziert sind.

    Mit der Verfassung mag das vereinbar sein. Politisch klug ist es nicht.

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