„Mittelreich“ hat der bayerische Schauspielstar Josef Bierbichler sein Romandebüt genannt, das vor neun Jahren erschien. Wortmächtig erzählt er darin die Geschichte einer Seewirtschaft, ihrer Eigentümerfamilie und Gäste zwischen 1914 bis 1984. „Es hat einen biografischen Hintergrund, ist aber keine Biografie“, stellt der 71-Jährige zu Beginn seiner Lesung im prall gefüllten Künstlerhaus Marktoberdorf klar.
Als Sohn einer Landwirts- und Gastwirtsfamilie wuchs Josef Bierbichler in Ambach am Starnberger See auf. Biografische Bezüge zu suchen liegt also auf der Hand, doch greift das zu kurz. Denn dieses „Mittelreich“, das er auf knapp 400 Seiten beschreibt, ist ein ganz eigener Kosmos, dem zwei Kriege mächtig zusetzen. Die Erschütterungen auf das Dorf und die Seewirtschaft sind immens. Menschen kommen und gehen, und wenn sie zurückkehren, haben sie sich verändert, sind meist ramponiert und deformiert, körperlich wie seelisch.
Für seine Romanverfilmung, die 2018 unter dem Titel „Zwei Herren im Anzug“ ins Kino kam, hatte sich der Autor und Regisseur Bierbichler für einen Kniff entschieden: Der Wirt und Bauer Pankraz (gespielt von ihm selbst) blickt mit seinem Sohn Semi (Bierbichlers Sohn Simon Donatz) nach einem Leichenschmaus zurück – auf die Kriege und Besatzungsjahre, das Wirtschaftswunder und den Kalten Krieg, auf Flüchtlinge und Familie. Was wird er lesen aus seinem verschlungenen, ereignis- und bilderreichen Roman? Das fragten sich wohl einige der 120 Besucher, die ihr Buchexemplar mitgebracht hatten.
In den Mittelpunkt stellte er das Schicksal des Fräuleins Zwittau, das in der bayerischen Seewirtschaft strandet und dort aufgenommen wird. „Das Fräulein ist das jüngste Kind einer in den letzten Tagen des Krieges aufgeriebenen ostpreußischen Adelsfamilie“, liest Josef Bierbichler vor. Das klingt klar und wird doch mit zunehmender Dauer immer unklarer. Denn das Fräulein birgt ein Geheimnis, das in einer Kriegsnacht trunkene, zügellose russische Soldaten enthüllen. „Auf der Scham des Fräuleins reckt sich die ausgegrenzte Lust des Zwitters, das Mal des Hermaphroditen: Das Fräulein hat eine Zipfelpritsche. So nennt man das Phänomen in jener Gegend auf dem Land ...“ Auch nach dem Krieg werden die Dörfler über das Fräulein Zwittau reden und – nach ihrem Freitod – verständnislos den Kopf schütteln über das „schaurige Naturphänomen“.
Ja, um das nicht Begreifbare, das Verborgene, Unsagbare, das Andere und Fremde, um all das geht es in „Mittelreich“. Die tragische Geschichte vom Fräulein Zwittau korrespondiert mit einem kafkaesk-surrealen Kurzfilm von Herbert Nauderer, der in der Künstlerhaus-Ausstellung „Der düstere Tag“ zu sehen ist: Bierbichler spielt darin einen Vater, der nicht klar kommt mit seinem Kind, einem weggesperrten Wesen – halb Maus, halb Mann.
Im Film wie in der Lesung spricht Bierbichler dieses unnachahmliche, bayerisch grundierte Hochdeutsch. Fast monoton, ab und an einen kräftigen Schluck Rotwein und Wasser zu sich nehmend, liest er im ersten Teil gut 50 Minuten lang die mäanderförmigen, endlos verschachtelten Sätze. Keine leichte Kost, sprachlich wie inhaltlich. Später wird er sich einmal unterbrechen. Zu herrisch und aufbrausend hat er den Ton einer Psychologin angeschlagen. „Entschuldigung“, sagt er und wiederholt schmunzelnd den Satz sanfter und schauspielerischer.
Am Ende gibt es viel Applaus. Josef Bierbichler signiert seine Bücher und schaut sich hinterher in Ruhe die Ausstellung an (geöffnet Dienstag bis Freitag 15 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag 14 bis 18 Uhr).