Die Wiener Symphoniker haben noch keinen Ton gespielt, da gibt es schon den ersten Knaller. Wütende Dorfbewohner schnappen sich einen Mann, der gerade ein Grab aushebt, und knüpfen ihn am nächsten Baum auf. Der dort erst noch zappelt und dann still baumelt, ist der Jägerbursche Max, und in Grube liegt seine Geliebte Agathe. Das Paar also, dessen Liebesgeschichte hier auf der Bregenzer Seebühne erzählt werden soll, ist tot. Da tritt ein rot gekleideter Kerl vors Publikum. Er stellt sich als Samiel vor, „Satans größten Ziegenbock“. Samiel hält die Zeit an, dreht sie dann um zwölf Stunden zurück. Prompt rattern die Zeiger auf der Uhr des schief aus dem Sumpf ragenden Kirchturms wie von Geisterhand bewegt. Und siehe da: Alle leben wieder, und das Spiel kann von Neuem beginnen.
So verrückt startet die Oper „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber in der Version der Bregenzer Festspiele. Und es wird in den nächsten 130 Minuten noch irrer. Zu verdanken ist dies Philipp Stölzl. Ihn haben die Bregenzer für die Inszenierung des „Freischütz“ verpflichtet, und er hat die gruselige Geschichte um Jägerstolz, romantische Liebe und verzauberte Gewehrkugeln in eine Persiflage mit Ironie und Witz verwandelt. Dieser respektlose Umgang mit der ersten deutschen Nationaloper, uraufgeführt 1821 in Berlin, kommt beim Publikum prima an, auch wenn manches arg überdreht oder gar kitschig wirkt. Bereits im Sommer 2024 bescherte Stölzls Interpretation den Bregenzern eine sensationelle Auslastung von 100 Prozent. Auch heuer, im zweiten Spieljahr, werden die 6700 Plätze auf der Seebühne bestens besetzt sein. Schon sind weit über 80 Prozent der 180.000 Tickets verkauft. Für etliche der noch kommenden 25 Aufführungen bis zum 17. August gibt es nur Restkarten.

Philipp Stölzl hat mit seiner bizarren Inszenierung des „Freischütz“ so großen Erfolg gehabt, dass er für die Wiederaufnahme in diesem Sommer eigentlich nichts nachjustieren hätte müssen. Hat er in den vergangenen Wochen dennoch gemacht, ein wenig zumindest. Mehr wäre vergebene Liebesmüh‘ gewesen. Denn Stölzl hat die Oper, die er als altmodisch bezeichnet, eh schon kräftig umgekrempelt.

Den satanischen Samiel, der sich im Original ab und zu einmischt, machte Stölzl zu einem dauerpräsenten Erzähler und Erklärer. Mehr noch: Dieser Teufel darf die Strippen ziehen und immer dann gottgleich ins Geschehen eingreifen, wenn er es für richtig oder lustig hält. Dafür fasste Stölzl zusammen mit dem Autor Jan Dvořák die Sprechszenen neu und baute sie kräftig aus. Was die Besucherinnen und Besucher auf der Seebühne erleben, ist nicht nur Webers Oper, sondern auch komödiantisches Theater im besten Sinne. Köstlich schelmisch agiert Schauspieler Moritz von Treuenfels bei der Wiederaufnahme-Premiere als Samiel.

Puristen unter den Opernfans fanden dieses Konzept im vergangenen Jahr nicht so gut. Das breite Publikum dagegen amüsierte sich prächtig. Und Intendantin Lilli Paasikivi registrierte zufrieden, dass das Festival damit ein neues, jüngeres Publikum erreichen kann. Das dürfte auch dem Theaterzauber in Kinoästhetik samt atemberaubender Action der 30 Stuntleute geschuldet sein.
Eine Riesenschlange taucht aus dem Wasser auf und speit Feuer
Die Zuschauer können bei sommerlichen Temperaturen durchaus frösteln. Stölzl, der auch als Bühnenbildner und Lichtdesigner fungiert, hat eine winterliche Landschaft auf die 70 mal 45 Meter große Bühne im Bodensee modelliert mit endzeitlich anmutenden Baumgerippen und einem Dorf, das halb im Wasser versunken ist. Donner krachen, Wölfe heulen. Zombies tummeln sich in der 500.000-Liter-Lagune. Aus ihr taucht irgendwann ein Pferdeskelett samt Kutsche auf, dann eine Riesenschlange, die Feuer speit. Eine albtraumhafte Welt voller surrealer Zutaten. Willkommen in der Geisterbahn.
In der unheimlichen Brühe direkt vor den Zuschauerrängen wird auch gekämpft, gestorben - und gesungen. Philipp Stölzl hat Carl Maria von Webers Oper zwar gehörig gerupft. Das Wesentliche aber bleibt, also große Arien, intensive Duette, dynamische Ensembles. Wie so oft haben die Bregenzer ausgezeichnete Sängerinnen und Sänger verpflichtet, souverän getragen von den Wiener Symphonikern, die erstmals der Schwede Patrik Ringborg dirigiert. Wer dramatisches und poetisches Musiktheater erleben möchte, kommt durchaus auf seine Kosten.
Am Ende sorgt Samiel dafür, dass die Sache nicht zu dramatisch wird oder gar tödlich für das Liebespaar. „Der Teufel darf kein Unmensch sein“, sagt er gönnerhaft.
Noch 25 Mal ist „Der Freischütz“ zu sehen
Bis zum 17. August 2025 sind noch 25 Auffürhungen des Freischütz auf der Bregenzer Seebühne geplant. Für einige gibt es nur noch Restkarten. Tickets online auf bregenzerfestspiele.com sowie unter Telefon 0043/5574/4076.
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