Wer ist Peer Gynt, und wenn ja, wie viele? Ganz im Sinne des Philosophen Richard David Precht ist diese Frage das Leitmotiv von Henrik Ibsens monumentalem Welt- und Seelendrama „Peer Gynt“. Die Titelfigur ist ein ziemlich rücksichtsloser Reisender durch Raum und Zeit. Ein Egomane, Draufgänger und Haudrauf. Seine Mutter nennt ihn einen „verdammten Aufschneider“ und ein „verlorenes Schwein“. Aber was erlebt er wirklich? Was malt er sich in seiner überbordenden Fantasie aus? Und findet er irgendwann zu sich selbst?
Das Theater in Kempten tischt derzeit eine ganz große Geschichte mit existenziellen Fragen auf. Immerhin wird Ibsens 1876 uraufgeführte Mischung aus Volksmärchen, Abenteuergeschichte und philosophisch angehauchter Reflexion über den modernen Menschen mit Goethes Faust verglichen. Bei der Premiere jubelte das Publikum im gut gefüllten Stadttheater mit großem Applaus und Bravorufen über eine sehenswerte Gemeinschaftsleistung von Regisseur und Bühnenbildner Nikolaus Büchel, der virtuosen Pianistin Nataliya Tkachenko, des starken Theaterchors und des fantastisch spielenden Ensembles – allen voran Sebastian Strehler in der Titelrolle.
Faszinierend wie der 42-Jährige in seiner ersten großen Partie in Kempten Peer Gynt durch sein Leben irrlichtern lässt. Dieser ist der typisch kapitalistische Selfmademan, der egoistisch, rücksichtslos, patriarchal-autoritär seine Ziele verfolgt, um ehrlich, lügend oder diebisch an Geld und Macht zu kommen. Ein Sklaven- und Waffenhändler, der buchstäblich über Leichen geht. Ein Typ wie die Trumps dieser Welt.
Dieser Peer Gynt hat auch sympathische Züge
Gleichwohl hat der Kerl sympathische Züge. Peer Gynt ist nämlich auch ein Suchender. Er giert nach Liebe, Anerkennung, Respekt, Bewunderung. Sebastian Strehler interpretiert Licht und Schatten dieses rastlosen Mannes sehr präsent und nachvollziehbar. In seinem Gesicht, vor allem wenn er staunend wie ein Kind die Augen aufreißt, spiegelt sich die unbeschwerte Energie dieses Stehaufmännchens. Zugleich ist Strehlers Spiel umwerfend physisch: Er rennt durchs ganze Theater, schreit sogar vom Balkon herunter, schwingt sich mit einem Seil durch den ganzen Bühnenraum, um krachend eine Scheunentür einzutreten.
In solcher körperlichen Präsenz ebenbürtig ist ihm Roman Just, der mehrere Rollen in dem personenreichen Stück übernehmen muss – und jeder einzelnen einen unverwechselbaren Charakter verleiht. Das selbe gilt für Corinne Steudler und Julia Jaschke. Steudler gibt all jene Frauen, die der – in psychoanalytischer Deutung – „ewige Jüngling“ bedrängt und verführt, verstößt und verstört. Wieder einmal spielt sie ihre Dynamik, Beweglichkeit und ihr sängerisches Können aus. Als Solveig stimmt sie mit hellem, klarem Sopran mehrmals ein wehmütiges Lied an, das viele in einer instrumentalen Fassung aus Edvard Griegs beliebten Peer-Gynt-Suiten kennen.
Die Kemptener Pianistin Nataliya Tkachenko fügt die Schauspielmusik wieder zum Drama - in einer originellen Version
Dass Musik bei Ibsens „dramatischem Gedicht“ erklingt, muss nicht sein. Oft wird es allein als Schauspiel gegeben, nicht zuletzt weil man die romantisch-klangmalerische Schauspielmusik Griegs (1843 - 1907), komponiert auf Ibsens Bitte, unpassend fand zum modern-experimentellen Text. Die Kemptener Pianistin und Musikwissenschaftlerin Nataliya Tkachenko ist da anderer Ansicht und traf mit ihrem Vorschlag für eine Aufführung im ursprünglichen Sinn beim Kemptener Theater auf offene Ohren.
Sie erstellte eine Klavierfassung und spielt sie nun live auf der Bühne. Mal überleitend, mal illustrierend, mal kommentierend und sowohl Sängerin Corinne Steudler als auch den Theaterchor begleitend passt sie wundervoll zur Handlung, verzahnt sich reibungslos mit ihr. Die „Morgenstimmung“, ein Klassikhit schlechthin, wird zu einer Art Leitmotiv des ersten Teils. Tkachenko sprach im Vorfeld der Premiere von einer Wiederentdeckung. Die ist ihr gelungen.
Regisseur Nikolaus Büchel hat viele köstliche Anspielungen in seine Fassung von "Peer Gynt" eingearbeitet.
Alles in allem bringt das Theater in Kempten eine furiose, vergnügliche und berührende Interpretation von „Peer Gynt“ auf die Bühne des großen Saals. Regisseur Nikolaus Büchel, Liechtensteiner mit Wiener Wurzeln, hat eine klug geraffte und bearbeitete Fassung geschaffen mit etlichen köstlichen Anspielungen und wenigen aktuellen Bezügen (was auch gar nicht nötig ist). Kurz blitzt mal der Krieg in Europa auf, und in einem Nebensatz fallen die Vornamen von „Schurken“: Wladimir, Viktor und Donald heißen sie.
Wer Peer Gynt ist, weiß man am Ende zwar besser als anfangs, aber immer noch nicht so richtig. Der „Held“ selbst kommt zur Erkenntnis, er sei wie eine Zwiebel mit vielen Schalen, aber ohne Kern. Dennoch erfährt er so etwas wie Erlösung. Er findet heim zu Solveig, die er einst sitzenließ, und die treu auf ihn wartete. Ein erstaunlich versöhnliches Ende.
Weitere Aufführungen von "Peer Gynt" im Kemptener Theater folgen am 17. und 25. April (20 Uhr) 2024, 20. April (19 Uhr) und 8. Mai (20 Uhr). Karten bei der Berchtold Reiselounge, auf theaterinkempten.de und unter Telefon 0831/870 23 23.