In schwierigen Situationen zeigt sich die Reife eines Rennfahrers. Auf dem Red-Bull-Ring hat Kelvin van der Linde am Sonntag ein Zeugnis davon abgelegt, dass er nicht nur an das hier und jetzt denkt, sondern auch an die Zukunft. Und die soll dem Abt-Piloten den Titel in der DTM bringen. Also ließ er den drängelnden Mercedes-Piloten Daniel Juncadella freiwillig vorbei statt sich einen nervenaufreibenden Zweikampf zu liefern.
Ab-Fahrer Kelvin van der Linde beweist Weitsicht
Dieses Manöver fand bewusst statt, weil Juncadella von den Rennkommissaren bereits eine Fünf-Sekunden-Strafe aufgebrummt worden war. Insofern fuhr der Spanier mit einem Handicap um den Kurs. Und im Endklassement lag van der Linde als Sechster deutlich vor dem Mercedes-Mann, der Zwölfter wurde.
Bereits am Samstag hatte der in Kempten lebende Südafrikaner Weitsicht bewiesen. Über Funk fragte er seinen Renningenieur Marc Roca, ob er den vor ihm fahrenden Philipp Ellis (Mercedes) angreifen und wie er sich gegen den von hinten heranstürmenden Ferrari-Fahrer Alex Albon verhalten solle. In beiden Fällen defensiv, kam zur Antwort. Also ließ er Albon passieren. „Platz fünf ist für Kelvin fast wie ein Sieg“, urteilte René Rast. Der amtierende DTM-Meister, der in der abgelaufenen Formel-E-Saison für die Äbte fuhr, war als TV-Experte für Sat 1 im Einsatz.
Was Sportdirektor Biermaier zur Leistung seines Piloten sagt
Zufrieden mit der Leistung seines Piloten war Abt-Sportdirektor Thomas Biermaier. „Wir gehen als Führende in die kommenden drei Wochenenden.“ Zwar war Spielberg-Doppelsieger Liam Lawson deutlich näher gerückt, der Abstand des Ferrari-Piloten auf van der Linde beträgt noch zwölf Zähler. „Für Kelvin waren das 18 wichtige Punkte“, so Biermaier, „es war an beiden Tagen das Maximale, was wir rausholen konnten.“
Mit einem blauen Auge davongekommen, so lautet Biermaiers Fazit. Schließlich war klar, dass der Red-Bull-Ring mit seinen langen Geraden und dem zwölfprozentigen Anstieg den Audi R8 nicht liegen würde. Trotzdem ärgerten sich die Abt-Verantwortlichen über die Balance of Performance (BoP), die die unterschiedlichen Fahrzeugkonzepte der verschiedenen Hersteller angleichen soll. Zwar war das Grundgewicht des R8 gegenüber dem Nürburgring um fünf Kilogramm auf 1335 Kilogramm reduziert worden, warum aber der Ferrari 15 Kilogramm leichter eingestuft wurde, blieb ein Geheimnis der Firma, die die Einstellung vornimmt.
So lief das Rennen am Sonntag in Spielberg
Obwohl sich Biermaier bei diesem Thema Zurückhaltung verordnet hat, musste er am Sonntag doch einen Kommentar abgeben: „Dazu möchte ich gar nicht so viel sagen, die Bilder von der Strecke sprechen für sich.“ Da dominierte am Samstag Liam Lawson bereits im Qualifying, war 0,271 Sekunden schneller als der Zweitbeste Maximilian Götz im Mercedes. In der DTM mit den GT3-Rennwagen eine Welt. „Du hast immer die Hoffnung, dass vielleicht nach dem ersten Training jemand aufwacht oder nach dem ersten Rennen“, sagte Abt-Fahrer Mike Rockenfeller.
Doch passiert ist nichts. Selbst mit 25 Kilogramm Erfolgsballast konnte Lawson am Sonntag noch allen davonfahren. So siegte ein Red-Bull-Pilot auf dem Red-Bull-Ringe. Weil die DTM-Organisation offiziell die BoP-Daten nicht veröffentlicht, bleibt ein schaler Beigeschmack. Ähnlich wie bei einem 100-Meter-Weltrekord, ob da nicht mit unerlaubten Mitteln nachgeholfen wurde.
Welche Rolle das Zusatzgewicht bei den DTM-Autos hat
Welchen Einfluss zusätzliches Ballast auf die Rundenzeiten hat, haben Kelvin van der Linde und das Abt-Team am Lausitzring gesehen. „Bei uns hat das Zusatzgewicht eine Rolle gespielt“, so Biermaier, „mit den 25 zusätzlichen Kilos war Kelvin etwa drei Zehntelsekunden langsamer als Rocky.“
Neben der BoP sorgt noch ein zweites Thema für Verdruss im Fahrerlager. Weil Ferrari und Mercedes bei den obligatorischen Reifenwechseln die Radmuttern über eine Sicherungsscheibe auf den Felgen halten, sind die Mechaniker etwa zwei Sekunden schneller. „Wir haben ganz klar einen Nachteil“, ärgert sich Biermaier. Und das Versprechen, dieses Verfahren ausgeglichener zu gestalten, wurde bislang nicht umgesetzt. „Die DTM-Organisatoren wollen nächste Saison auf die Teams zukommen“, sagt Biermaier. Und hofft inständig auf eine Anpassung. So wie auch bei der BoP zum nächsten Rennen in Assen in knapp zwei Wochen.