Auf dem Eis hat sie alles gewonnen. Im Krieg droht ihre Familie alles zu verlieren. Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Aljona Savchenko ist dieser Tage nach wie vor in großer Sorge um ihre Verwandten in der Ukraine. Wenige Tage nach Kriegsbeginn hatte die 38-jährige Oberstdorferin in einem Interview erstmals die Lage ihrer Familie im Kriegsgebiet geschildert. Unsere Redaktion hatte nun die Gelegenheit, Savchenko in Oberstdorf zu treffen. Die Ukrainerin spricht über die Flucht ihres Vaters, über die Situation in ihrer Heimatstadt und über die Sorgen um ihr Kind.
Frau Savchenko, die Lage in den betroffenen Kriegsgebieten ist nach wie vor dramatisch. Wie hat sich die Situation für Ihre Familie in Donezk entwickelt?
Aljona Savchenko: Die Situation belastet mich sehr und macht mir große Sorgen. Dadurch, dass meine Familie noch fest in der Ukraine verwurzelt ist und in den stark betroffenen Gebieten lebt, ist es immer nur noch schrecklicher geworden. Die Geschwister meiner Eltern und ihre Kinder leben in Donezk und sind komplett abgeschnitten. Wir alle haben seit Wochen immer noch keinen Kontakt. Der andere Teil der Familie lebt in der Nähe von Kiew.
In Ihrer Heimatstadt Obuchiw, wo auch Ihre Eltern wohnen…
Savchenko: Genau dort hat vor drei Tagen eine Rakete eingeschlagen, wenige Kilometer von der Wohnung meiner Eltern entfernt. Die Lage ist katastrophal. Meine Mutter ist zum Glück hier bei mir, aber meine drei Brüder sind dort und mein Vater ist seit zwei Tagen auf der Flucht.
Wissen Sie, wo er ist?
Savchenko: Nicht genau. In der Nacht zum Freitag haben wir noch das letzte Mal Kontakt gehabt. Es ist aber nicht so leicht, weil viele Menschen zu fliehen versuchen und sie alle suchen Stellen für humanitäre Hilfen. Aber das alles ist sehr kompliziert, weil viele Straßen zerstört sind und auch die Korridore immer wieder beschossen werden.
Wie geht es Ihren Brüdern?
Savchenko: Das kann man nicht genau sagen. Es ist sehr wild und unübersichtlich. Es kann immer etwas passieren, leider. Zwei meiner drei Brüder helfen als Mediziner in den Notfalleinrichtungen. Sie melden sich immer, wenn sie können. Aber es bleibt sehr gefährlich.
Was berichten Ihre Brüder über die medizinische Situation?
Savchenko: Es ist sehr dramatisch, was die medizinischen Vorkehrungen betrifft. Vor einer Woche haben wir das letzte Mal telefoniert. Mein Bruder sagte mir, dass ihnen Material und Medikamente fehlen. Das Schlimmste ist, dass schreckliche Angriffe auf Krankenhäuser und Kinderkliniken stattgefunden haben.
Was bekommen Sie über Ihre Freunde und Bekannten über die allgemeine Lage in der Ukraine mit?
Savchenko: Wir sprechen, wann immer es geht, mit Freunden und Bekannten. Sie alle sagen, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie solche Angst hatten. Im ganzen Land herrschen Angst und Sorge. Mein Herz blutet, wenn ich an das Leben meiner Eltern und der Familie denke.

Wie ist die Situation in Ihrem Heimatort Obuchiw?
Savchenko: Es gibt auch dort viele zivile Opfer. In den Städten gibt es nicht mehr viel Wasser, die Leute kämpfen teilweise ohne warme Kleidung um ihr Leben. Unvorstellbar.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Bilder im Fernsehen sehen?
Savchenko: Es kommen immer wieder Tränen. Es ist so schmerzhaft, das zu sehen. Wir versuchen, für unsere Kinder und unsere Familien stark wie möglich zu sein. Aber ich empfinde so großen Schmerz, wie noch nie in meinem Leben. Das kann man alles nicht glauben.
Worin besteht Ihre größte Sorge in diesem Krieg?
Savchenko: Es ist ein wahnsinniger Horror, aber leider die Realität. Wir können nicht nachvollziehen, dass so etwas 2022 in Europa passiert. Meine große Angst ist, dass es noch viel mehr Tote gibt. Das betrifft ganz Europa, aber vielleicht erkennen nicht alle, wie sehr die ganze Situation unterschätzt wird.
Aljona Savchenko: Kriegs-Angst auch in ihrer neuen Heimat im Allgäu
Wie reagieren die Menschen im Allgäu?
Savchenko: Wunderbar. Ich bin sehr dankbar, dass die Leute so sehr helfen wollen. Das ist ein wichtiges Zeichen und gibt Kraft.
Sorgen Sie sich auch um Ihre zweite Heimat, hier im Allgäu?
Savchenko: Wir müssen uns überall sorgen, egal, wo wir sind.
Nun sind Sie seit September 2019 auch junge Mutter. Verstärkt das Ihren Schmerz in dieser Zeit?
Savchenko: Ja, tausendfach. Als Mutter nimmt man alles ganz anders wahr. Jede Angst ist schlimmer, jede Sorge nimmt man ernster. Man will dem Kind alles geben, was man im Leben hat. Die Pandemie hat den Kindern schon geschadet und jetzt erleben wir diesen Krieg. Ich versuche, meine Tochter abzulenken, damit sie nichts merkt. Ich kann mich wirklich noch gut erinnern, als 1986 die Tschernobyl-Katastrophe nicht weit von uns entfernt passiert ist. Ich war erst zwei Jahre alt und habe im Sandkasten gespielt, als mich meine Tante hektisch abgeholt hat und wir weggefahren sind.
Das hat Sie geprägt…
Savchenko: Menschen merken sich so etwas für das ganze Leben. Und das macht mir Angst.
Sie arbeiten als Trainerin in Oberstdorf. Wie wichtig ist diese Ablenkung?
Savchenko: Sehr wichtig, es ist nicht nur körperliche Ablenkung, sondern auch für die Seele. Die Kinder geben mir eine positive Energie. Wir dürfen nie die Kinder vergessen.
Sie haben in der vergangenen Woche eine Sammelaktion in Oberstdorf unterstützt. Können solche Projekte den Menschen wirklich helfen?
Savchenko: Alles hilft. Fast alle Menschen in den Gebieten sind ohne alles geblieben. Haben ihr Haus verloren und sind ohne Essen geflüchtet. Ich weiß, dass meine Tanten und Onkel nichts mehr zu essen haben. Jetzt verhungern allmählich die Leute. Das ist eine neue schreckliche Dimension.
Planen Sie selbst weitere Aktionen?
Savchenko: Ich habe bei mir zuhause eine Familie aufgenommen. Und ich versuche in den kommenden Tagen, dass wir auch weitere medizinische Utensilien sammeln und transportieren. Auch finanzielle Unterstützungen für Familien sind geplant, aber schwer zu realisieren.
Wie können die Menschen im Allgäu helfen?
Savchenko: Spenden, füreinander da sein. So helfen, wie sie können. Und das kann auch losgehen, wenn man seine Meinung äußert. Und wenn es auch nur darüber geht, dass man die Welt über social media informiert. Sonst sind wir machtlos und sehen jeden Tag tausende Bilder von Kindern, die sterben.
Wenn Sie einen Wunsch freihaben…
Savchenko: Dass alle, die noch am Leben sind, am Leben bleiben. Das heißt, dass der Albtraum endet.