Zwischen Party und Grund zu gewisser Panik liegen in Bayern in diesem Corona-Herbst nur wenige Wochen - aber Hunderte Corona-Tote. Zum 1. Oktober erlaubte die Staatsregierung von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) nach langer Pause die Öffnung von Clubs und Discos, auch die Maskenpflicht im Unterricht endete. Die Krankenhaus-Ampel sei "im grünen Bereich", hieß es. Kurz darauf liefen bundesweit die kostenlosen Corona-Tests aus. Noch am Tag vorher hatte das Robert Koch-Institut gewarnt: "Ein Anstieg der Infektionszahlen im Herbst und Winter ist zu erwarten."
Der erwartete Anstieg erweist sich wenige Wochen später als dramatische Welle, die bisher ungebremst ist: Die Infektionszahlen steigen - und das in einem rasanten Tempo, das so offenbar auch nicht alle Virologen vorausgesagt hatten. Zuerst schnellten die Sieben-Tage-Inzidenzen in Landkreisen im Südosten in die Höhe, dann explodierten die Zahlen unter Kindern und Jugendlichen.
Coronapolitik in Bayern: Was ist aus "Team Vorsicht" geworden?
Immer dunkler und dunkler wird die bayerische Corona-Karte, immer neue Rekordwerte werden gemeldet. Der vorläufige Höchststand: Am Donnerstag meldet das Robert Koch-Institut 13.456 neue Corona-Fälle in Bayern, über 3.000 mehr als am Vortag. Immer mehr Intensivstationen im Freistaat laufen voll, sogar im medizinisch grundsätzlich gut bestückten München warnen Ärzte vor einer akut drohenden Überlastung.
Ausgerechnet in Bayern. In dem Bundesland, dessen Ministerpräsident einst das selbst ernannte "Team Vorsicht" mit angeführt hatte und sich damit rühmte, mit seinen Maßnahmen "vor der Welle" zu liegen. Ein Hauptgrund: Die vielerorts nach wie vor niedrigen Impfquoten.

"Wo ist Markus Söder?" - diese SPD-Replik musste sich Söder zuletzt auf Twitter gefallen lassen, nachdem er dort zuvor nach der neuen "Ampel" und Olaf Scholz (SPD) gefragt hatte. "Wo ist der bayerische Ministerpräsident?", fragte aber auch ein Intensivmediziner. Die Grünen kritisierten, die Söder-Regierung habe es nicht geschafft, die dringend notwendigen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung zu ergreifen.
Ministerpräsident Söder: dieses Mal zu zaghaft gehandelt bei der Bekämpfung der Pandemie?
"Wir sollten tun, was notwendig ist", so oder ähnlich hatte Söder während der vergangenen Corona-Wellen immer argumentiert und Dinge entschieden, die oft hart und unbequem waren. Diesmal wirkt es auf manche, als seien dem einstigen Vorkämpfer ausgerechnet jetzt die Werkzeuge im Instrumentenkasten gegen die Pandemie ausgegangen. Manche davon könnte ihm die in Berlin geplante Ampel aus SPD, FDP und Grünen auch aus der Hand nehmen - wenn tatsächlich harte Instrumente bis hin zu (Teil-)Lockdowns künftig ausgeschlossen werden sollten.
Tatsächlich hat Söder in den vergangenen Wochen gehandelt - aber eben nicht wie in früheren Corona-Wellen mit einem konsequent geschnürten Paket, sondern Schritt für Schritt, und ohne dass damit bisher die Corona-Dynamik gebremst werden konnte. Den Ampel-Machern wirft er vor, wie "in stürmischem Winter mit Sommerreifen" unterwegs zu sein. Aber auch Söders Fuhrpark hat offenbar noch keine Schneeketten.
Bislang gibt es große Zweifel, ob die ergriffenen Maßnahmen die neue Infektionswelle auch nur annähernd brechen können. Nicht umsonst fordert der renommierte Erlanger Virologe Klaus Überla, Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko), inzwischen einen Lockdown für alle. Die Politik - auch Söder - haben dies bislang klar ausgeschlossen.
Bayerns Corona-Politik auf dem Prüfstand
Rückblick: Ende Oktober beraumt Söder ein Krisentreffen des Kabinetts mit Landräten besonders betroffener Kreise im impfskeptischen Süden Bayerns an. Regel-Verschärfungen gehen daraus zunächst jedoch nicht hervor. Kurz darauf kündigt Söder dann allerdings doch an, dass die Maskenpflicht am Platz in den Schulen wieder zurückkehrt. Anfang November justiert die Staatsregierung, auch wieder nach Kritik aus dem Land, die sogenannte Krankenhaus-Ampel nach.
Was wenige Tage später zu einer Rückkehr der FFP2-Maskenpflicht und zu strikteren Zugangsregeln für Ungeimpfte führt: Teilweise brauchen sie nun einen PCR-Test, teilweise haben sie gar keinen Zutritt mehr. Zahlreiche Kommunen hatten zu der Zeit schon - offenbar unwillig, länger auf die Vorgaben aus München zu warten - selbst mit Gegenmaßnahmen vorgelegt.
Wenige Tage später ist auch das schon Makulatur: Die Corona-Ampel springt auf Rot - nun gilt in weiten Bereichen die 2G-Regel, Zugang zu vielen Freizeitveranstaltungen haben also nur noch Geimpfte und Genesene. Zur Einführung von 2G auch in Gaststätten können sich Söder und sein Kabinett zunächst nicht durchringen. Als die Corona-Zahlen dann noch weiter steigen, kommt der Schwenk: Ab nächsten Dienstag (16. November) soll 2G nun auch in der Gastronomie gelten. Wobei mancher Virologe 2G inzwischen schon nicht mehr für ausreichend hält. (Lesen Sie auch: Coronazahlen steigen: Was ändert sich durch den Katastrophenfall in Kempten?)
Was ist der Grund für das lange Zögern der Politik, endlich konsequent zu handeln?
In einem kurzfristig anberaumten Pressestatement am Sonntagnachmittag kündigt Söder dann noch mehr an: Auch unter 2G-Bedingungen soll in Bayern künftig eine Maskenpflicht gelten, also auch für Geimpfte und Genesene. In Kitas soll es wieder feste Gruppen und drei Tests pro Woche geben. Die Regeln für Weihnachtsmärkte will er verschärfen.
War oder ist Rücksicht auf Interessengruppen der Grund für das lange Zögern der Politik? Ist der CSU-Koalitionspartner Freie Wähler mit Hubert Aiwanger an der Spitze der entscheidende Bremsklotz? Hatte Söder zu viel Sorge vor dem Querdenker-Volksbegehren zur Auflösung des Landtags? Zudem sollen auch in der CSU längst nicht mehr alle voll hinter Söders Kurs der Vorsicht und Umsicht gestanden haben. Oder geht es Söder in den vergangenen Wochen darum, mit etwas moderaterer Linie letzte Impfskeptiker noch halbwegs zu überzeugen?
Söder argumentiert, mit den am Sonntag angekündigten Maßnahmen seien die Möglichkeiten für ihn nun ausgeschöpft. "Wir tun das, was möglich ist – und das ist 2G", betont er. "Mehr geht rechtlich nicht."

Hinzu kommen auch Probleme bei den Kommunen - die freilich auch von sich aus schärfer hätten handeln können - und in anderen Bereichen: In München etwa kommen die Behörden mit der Corona-Datenerfassung nicht hinterher. Andererseits beschwert sich die Stadt, der Impfstoff werde knapp, was der Apothekerverband Tags darauf zurückweist.
Impfzentren und Hausärzte auf erneuten Andrang unvorbereitet - es mangelt an "Booster"-Impfungen
Tatsächlich aber müssen sich die von den Kreisverwaltungsbehörden betriebenen Impfzentren und auch niedergelassene Ärzte logistisch erst wieder auf die anziehende Nachfrage nach Erst-, Zweit- und Auffrischungsimpfungen einstellen. Wobei eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission zu einer Booster-Impfung für alle immer noch aussteht. Doch auch dort, wo das längst stattfinden könnte, etwa in den Alten- und Pflegeheimen, läuft es mit den Auffrischungsspritzen nicht überall rund: Wohl etwa ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner dürfte laut Schätzungen noch keine dritte Impfung haben.
Ein zentrales Problem ist auch das Corona-Wechselspiel von Bund und Ländern: SPD, Grüne und FDP im Bund wollen die epidemische Notlage von nationaler Tragweite - wie vom geschäftsführenden CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch am 23. Oktober bekräftigt - in Kürze auslaufen lassen. Erst am nächsten Donnerstag wollen Bund und Länder nun gemeinsam beraten - aus Söders Sicht viel zu spät. Bis dahin gibt es vor allem viele wechselseitige Schuldzuweisungen. Und Zick-Zack-Politik: Spahn spricht inzwischen von möglichen Lockdown-Maßnahmen. Von der geschäftsführenden Bundesregierung war ansonsten nur wenig zu hören.
2G, Kontaktbeschränkungen und verschärfte Maskenpflicht: Wie Söder Bayern aus der Coronapandemie führen will
Söders Worte am Sonntag sind jedenfalls an Deutlichkeit nun kaum mehr zu überbieten: "Es droht ein Kollaps, es droht Triage", warnt er. Es müssten jetzt alle an einem Strang ziehen. "Keiner wird von dieser Sache parteipolitischen Profit schlagen, sondern es gibt nur maximalen Schaden für das Land - und der muss abgewendet werden." Insbesondere fordert er die Möglichkeit von Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und eine Personen-Obergrenze für Veranstaltungen, flächendeckend 2G sowieso, und 2G plus in Clubs und Diskotheken.
Bund und Länder stehen vor grundsätzlichen Problemen: Noch massivere Einschnitte als 3G (geimpft, genesen oder getestet) oder 2G gelten angesichts der vielen Geimpften als schwer durchsetzbar, auch rechtlich. Insgesamt scheint das Land pandemiemüde - Rufe nach mehr eigenverantwortlichem Handeln verhallen oft ungehört. Hinzu kommt: Viele Geimpfte wähnen sich angesichts des mit der Zeit zurückgehenden Impfschutzes möglicherweise in etwas trügerischer Sicherheit. (Lesen Sie auch: Ab Montag gilt in Österreich ein Lockdown für Ungeimpfte)