Herr Dr. Zimmermann, im Notfall muss man den Rettungsdienst rufen, das ist klar. Aber was ist eigentlich ein medizinischer Notfall?
Philipp Zimmermann: In der Medizin sprechen wir von sogenannten Leitsymptomen, die eine medizinische Behandlung dringend und unaufschiebbar erfordern. Wird ein Patient in einer solchen Situation nicht unmittelbar behandelt, besteht Lebensgefahr. Liegen also diese bestimmten Symptome vor, sprechen wir von einem Notfall. Und der Umkehrschluss heißt dann
auch: In allen anderen Fällen nicht.
Welche Symptome erfordern also sofort einen Notruf?
Zimmermann: Wenn ein Patient unter akuter Atemnot, Bewusstseinsstörungen oder akuten Brustschmerzen leidet. Natürlich sollte auch bei größeren Verletzungen, Blutungen, Verbrennungen, Vergiftungen oder stärksten Schmerzen ein Notruf abgesetzt werden. Zu den kritischen Symptomen zählen auch plötzliche Lähmungserscheinungen, die können auf einen Schlaganfall hindeuten.
Manche Menschen scheuen sich, in der Nacht anzurufen, weil sie keine Umstände machen wollen...
Zimmermann: Ja, die gibt es. Diese Zurückhaltung ist aber absolut unangebracht. Treten die genannten Symptome auf, muss unbedingt zu jeder Tages- und Nachtzeit der Rettungsdienst unter der Nummer 112 alarmiert werden. Diese Situationen sind zeitkritisch. Jede Minute des Abwartens verschlechtert die Prognose des Patienten. Darf ich Ihnen in diesem Zusammenhang eine Anekdote aus der Praxis erzählen?
Gerne.
Zimmermann: In den Kursen für angehende Notärzte vermittle ich als Kursleiter den Teilnehmern immer auch eine Kernbotschaft: Und die lautet: Jeder rettungsdienstliche Einsatz auf einem Bauernhof ist immer erstmal als akut einzustufen. Ich hatte schon wirklich viele Einsätze auf Bauernhöfen - aber noch nie war einer dabei, der nicht gerechtfertigt gewesen wäre. Die Landwirte sind einfach grundsätzlich sehr zäh und warten häufig so lange, bis es wirklich nicht mehr geht. Und das ist eben genau ein
Beispiel für die falsche vornehme Zurückhaltung, die am Ende lebensbedrohlich sein kann.

Der Notfall ist erkannt, die Notrufnummer gewählt. Wie geht es dann weiter?
Zimmermann: Unter der 112 meldet sich die Integrierte Leitstelle. Dort sitzt medizinisch geschultes Personal, das bestimmte Fragen
stellt und entscheidet, ob nur ein Rettungswagen kommt, zusätzlich der Notarzt oder gegebenenfalls auch der Rettungshubschrauber alarmiert werden. Die Leitstelle kann aber auch zu dem Schluss kommen, es handelt sich gar nicht um
einen Notfall.
Wer einen Notfall meldet, ist in einer Stresssituation. Wie verhält man sich richtig?
Zimmermann: Auch wenn es schwer fällt, sollte man versuchen, am Telefon die Ruhe zu bewahren und nicht panisch zu reagieren. Der Anrufer sollte kurz die Situation beschreiben und die W-Fragen beantworten: Also wer, was, wo? Und ganz wichtig: Nicht auflegen, sondern in der Leitung bleiben und Rückfragen abwarten. Der Experte am Telefon kann dann auch weitere Anweisungen
geben, was zu tun ist. Etwa welche Erste-Hilfe Maßnahmen notwendig sind.
Kann man auch dem Rettungsdienst irgendwie helfen?
Zimmermann: Absolut. Wenn am Ort des Notfalls noch weitere Helfer sind, können die auf die Straße gehen, auf Rettungswagen und Notarzt warten und sie dann einweisen. Gerade nachts erspart das im Dunklen möglicherweise die Suche nach Hausnummer oder Hauseingang. Und noch eine Bitte: Den Patienten lieber auf der Wohnzimmercouch liegen lassen und nicht vor Eintreffen des Rettungsdienstes noch in ein höheres Stockwerk bringen. Im Notfall erschwert das sonst den Transport enorm. Und auch das ist wichtig: Bei einem Notfall (wie etwa Verdacht auf Herzinfarkt oder Schlaganfall) den Patienten nicht selbst ins Krankenhaus fahren. Sondern auf den Rettungsdienst warten. Wir sind meist in zehn Minuten da.
Gelten für Kinder die gleichen Notfall-Regeln?
Zimmermann: Was für Erwachsene gilt, trifft größtenteils auch für Kinder zu. Allerdings besteht gerade bei kleinen Kindern die Schwierigkeit, dass sie sich nicht artikulieren können. Heißt: Das Kind kann nicht genau sagen, was und wo es wehtut oder warum
es sich schlecht fühlt. Wenn Eltern aber bemerken, mein Kind verhält sich deutlich anders als normalerweise, sollten sie reagieren. Unsere Erfahrung zeigt: Solange ein Kind weint, ist es oft nicht lebensbedrohlich – auch wenn das erst einmal paradox klingt.
Sie fahren seit etlichen Jahren als Notarzt Einsätze. Wie haben sich die Fallzahlen entwickelt?
Zimmermann: Wir können für die vergangenen Jahre eine ganz klare Entwicklung beobachten: Die Zahl der Notarzteinsätze steigt. Als ich im Jahr 2013 anfing, gab es im Schnitt zwei Einsätze in 24 Stunden. Mittlerweile verzeichnen wir am Standort Marktoberdorf durchschnittlich vier Einsätze pro Tag. Die Einsatzzahlen haben sich also verdoppelt. Das liegt zum einen am demographischen Wandel, die Menschen werden immer älter. Zum anderen ist auch die Bevölkerungszahl gestiegen, es leben mehr Menschen in der Region. Und dann kommt beispielsweise noch so ein Faktor wie die Schließung des Schongauer Krankenhauses dazu. All das spüren wir bei den Einsatzzahlen. Dennoch sind wir nicht überlastet. Unser Rettungsteam ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Kaum ein andere Notarzt-Standort in Bayern ist so gut besetzt, wie wir im Ostallgäu!
Was ist eigentlich, wenn der Rettungsdienst alarmiert wurde und es stellt sich vor Ort heraus: Das ist gar kein Notfall.
Zimmermann: Also wenn uns jemand ruft, weil er sich ernste Sorgen um einen Angehörigen macht und es ist dann letztlich gar nicht so akut, dann ist sicher niemand böse. Wir kommen lieber einmal zu viel.
Das Bayerische Rote Kreuz (BRK) beklagt eine hohe Zahl an Fehleinsätzen: In rund 70 Prozent der Fälle wäre kein Rettungsdienst notwendig gewesen, heißt es. Wie ist das im Ostallgäu?
Zimmermann: Solche Fälle kennen wir auch. Es hat sich eben eine gewisse Vollkasko-Mentalität eingebürgert. Und dann ruft eben jemand die Notfall-Nummer, obwohl er die Beschwerden schon länger hat, aber trotzdem nicht zum Arzt ging. Die Hilfe soll dann bitteschön nach Hause kommen. Nach dem Motto: Das steht mir zu. Wir sprechen dann intern vom „AOK-Taxi“, das angefordert wird. Also solche Fälle gibt es. Oftmals ist ein Fehleinsatz aber keine böswillige Alarmierung. Die Menschen wissen schlicht und ergreifend nicht, an wen sie sich sonst wenden sollen. Was uns aber viel mehr zu schaffen macht, ist eine ganz andere Entwicklung.
Und zwar?
Zimmermann: Es kommen immer mehr Menschen von selbst in die Notfallzentren der Kliniken in Kaufbeuren oder Füssen. Und da beobachten wir eben eine steigende Zahl von Patienten, die keine Notfälle sind. Die haben entweder nicht schnell genug einen Arzttermin bekommen oder stufen sich selbst einfach als Notfall ein. Die Abwesenheit von Gesundheit wird als Notfall
angesehen. Und weil die Leute sich selbst gar nicht mehr zu helfen wissen, kommt dann schon mal der klassische Männerschnupfen in die Notaufnahme. Unser Problem ist: Wir dürfen die Leute nicht wegschicken, sondern müssen sie behandeln. Das sorgt dafür, dass zu Spitzenzeiten unsere Kapazitäten für echte Notfälle begrenzt sind.
Wer sollte in die Notaufnahme des Krankenhauses und wer nicht?
Zimmermann: Wer sich einen Arm gebrochen, eine Schnittwunde oder sich die Hand verbrannt hat, ist in der Notaufnahme richtig. Bei schweren Verletzungen oder anderen Notfall-Symptomen, gilt das, was wir anfangs besprochen haben: Den Notruf wählen!
Und was machen die Menschen, die am Wochenende ärztliche Hilfe brauchen? Oder die Hausarzt-Praxis hat bereits geschlossen. Wohin wende ich mich?
Zimmermann: Außerhalb der Sprechzeit gibt es eine Top-Anlaufstelle, die auch immer die erreichbar ist: Einfach die 116117 wählen.
Unter dieser Nummer erreichen Patienten den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Bei diesem Patientenservice befragt medizinisch geschultes Fachpersonal den Anrufer zu seinen aktuellen Beschwerden und schätzt den Gesundheitszustand ein. Die Experten können Patienten beraten und auch einen Arzttermin vereinbaren. Wer außerhalb der üblichen Sprechzeiten krank ist, kann auch eine der sogenannten Bereitschaftspraxen aufsuchen. Die gibt es in der Region etwa in Kaufbeuren Füssen oder Kempten. Diese Praxen sind an die Krankenhäuser angegliedert. Dort können Ärzte die Symptome behandeln, ein Rezept oder auch eine Krankschreibung ausstellen. Mit all dem sind die Patienten richtig gut versorgt.
Sie haben fehlendes Wissen und die mangelnde Gesundheitskompetenz angesprochen. Was muss sich tun, damit das besser wird?
Zimmermann: Um die Gesundheitskompetenz zu stärken, müsste man das Thema stärker in die Schullehrpläne verankern. Es geht da auch um Wissensvermittlung, was man selbst bei normalen Krankheiten tun kann und wer der richtige Ansprechpartner ist. Das ist nämlich nicht Dr. Google! Außerdem müsste die Politik die niedergelassenen Ärzte stärken und ihnen nicht immer noch mehr Bürokratie aufbürden. Das alles würde helfen, die Kliniken und den Rettungsdienst zu entlasten.
Zur Person: Dr. Philipp Zimmermann ist Chefarzt der Notaufnahmen der Kliniken Ostallgäu-Kaufbeuren. Zimmermann (42) fährt als Obmann der Notarztgruppe Marktoberdorf auch selbst oft Rettungseinsätze.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden