Sind es wirklich erst 100 Tage? Mit dem Trommelfeuer an Dekreten, Tabubrüchen und Kehrtwenden fühlen sich die ersten Monate der zweiten Amtszeit von Donald Trump wie eine Ewigkeit an. Selbst aufmerksame Beobachter verlieren den Überblick. Dabei vollzieht sich ein fundamentaler Umbruch der USA. Zehn Schlaglichter einer beunruhigenden Entwicklung:
20. Januar – 10th Street /New York Avenue, Washington. Das Gefährt kann man kaum übersehen. Fünfzehn Meter lang ist die „Trump Unity Bridge“ auf einem Anhänger, mit dem Rob Cortis seit Jahren kreuz und quer durch die USA karrt. Angeblich hat er unterwegs auf seiner mobilen Installation die Anliegen der Bevölkerung verewigt. „Migration“ steht da, „Infrastruktur“, „Gesundheitsversorgung“, „Jobs“ und „Baut die Mauer!“ Ganz groß fordert ein Plakat: „Bringt Amerika zusammen!“
„Nur am ersten Tag“ seiner Amtszeit werde er ein Diktator sein, hat Trump im Wahlkampf gesagt
An diesem eisigen Wintertag will der Mann aus Michigan die Botschaft nach Washington bringen, wo sein Idol im Kapitol vereidigt wird . „Das Goldene Zeitalter von Amerika beginnt genau jetzt“, verspricht Donald Trump dort vor 600 handverlesenen Gästen. Ganz vorne sitzt ein halbes Dutzend Milliardäre. „Nur am ersten Tag“ seiner Amtszeit werde er ein Diktator sein, hat Trump im Wahlkampf gesagt. Am Abend unterzeichnet er die ersten präsidialen Dekrete. Mehr als 200 inhaftierte Kapitolstürmer kommen frei.
7. Februar – USAid-Hauptquartier, 1300 Pennsylvania Avenue, Washington. Zunächst brechen zwei Arbeiter auf einer Hebebühne den metallenen Schriftzug aus der Wand, dann überkleben sie das Wappen mit einem schwarzen Müllsack: Binnen weniger Minuten ist die 64 Jahre alte Entwicklungsorganisation USAid aus dem Straßenbild der Hauptstadt verschwunden. Eine „kriminelle Organisation“ hat sie der Kostenkiller Elon Musk genannt und die Behörde mit ihrem 43-Milliarden-Dollar-Budget nach eigenen Worten triumphierend „in den Häcksler“ geworfen. Die Computer sind abgeschaltet, tausende Beschäftigte beurlaubt, die Projekte in aller Welt verwaist.
USAid ist das erste Opfer von Trumps Großangriff auf die öffentliche Verwaltung. Das Bildungsministerium, Verbraucherschutzbehörden und selbst meteorologische Institute werden bald folgen. Rund 130.000 Staatsdiener verlieren in den ersten drei Monaten ihren Job.
11. Februar – Briefing Room des Weißen Hauses, Washington. Seit dem Vormittag haben sich die Mitglieder des rotierenden Presse-Pools, der traditionell bei jedem Auftritt des Präsidenten dabei ist, bereitgehalten. Kurz nach 13 Uhr werden sie ins Oval Office gerufen, wo Trump mehrere Dekrete unterzeichnen soll. Doch der Reporter der Agentur AP wird überraschend abgewiesen.
Trump Sprecherin sperrt kurzerhand sämtliche seriösen Agenturen aus dem Oval Office aus
Das ist ein beispielloser Eklat. Trumps Sprecherin Karoline Leavitt begründet ihn mit den „Lügen“, die AP verbreite. Tatsächlich weigert sich die Agentur lediglich, den Golf von Mexiko als „Golf von Amerika“ zu bezeichnen, wie es Trump verlangt. Solange AP nicht einlenkt, will Leavitt den Journalisten den Zugang zum Präsidenten verwehren. Die Agentur klagt und bekommt Recht. Doch es hilft nichts: Leavitt sperrt kurzerhand sämtliche seriösen Agenturen aus dem Oval Office aus. Dafür dürfen dort nun ultrarechte Podcaster ein- und ausgehen.
22. Februar – JW Marriott Hotel, Washington. Tausend Gäste sind gekommen zur Konferenz von „Principles First“, einer Organisation konservativer Trump-Kritiker. Ex-Gouverneur Chris Christie tritt auf und der frühere Abgeordnete Adam Kinzinger. Doch der interessanteste Redner ist Michael Fanone. Als Kapitolspolizist verteidigte er 2021 unter Lebensgefahr das Parlament gegen den Ansturm der rechten Randalierer. Damals wurde er dafür ausgezeichnet. Nun bezeichnet Trump die Schläger als „Patrioten“.
Als Fanone an diesem Samstag nach seinem Vortrag zum Hotelaufzug geht, wird er plötzlich von einem Mann bedrängt und wild beschimpft. Es ist der von Trump begnadigte rechte Milizenführer Enrique Tarrio, der eigentlich für 22 Jahre im Gefängnis sitzen müsste. Feixend lässt sich Tarrio von ein paar Spießgesellen filmen, bevor er abzieht. Kurz darauf erhält Fanones 79-jährige Mutter eine Bombendrohung. Solche Einschüchterungsversuche sind inzwischen an der Tagesordnung. „Meine Familie fühlt sich wegen Trump nicht mehr sicher“, gesteht der Ex-Polizist.

28. Februar – Westflügel des Weißen Hauses, Washington. Irgendetwas stimmt nicht. Eigentlich soll gleich die Pressekonferenz von Trump mit seinem Gast Wolodymyr Selenskyj beginnen, doch die Türen des East Rooms sind verschlossen. Die Reporter strömen deshalb zurück zum Eingang des Westflügels, wo gerade eine schwarze Limousine mit ukrainischer Flagge vorgefahren ist. Tatsächlich: Um 13.40 Uhr rauschen Selenskyj und seine Entourage wortlos ab. Trump hat sie regelrecht hinausgeworfen.
Niemand kann mehr Illusionen haben, wie ein von Trump ausgehandelter Ukraine-Deal aussehen würde
Was zuvor im Oval Office vorgefallen ist, kann die ganze Welt später in den TV-Nachrichten sehen. Der einstige Führer des Westens hat den Vertreter eines von Russland überfallenen Landes vor laufenden Kameras minutenlang beschimpft. Niemand kann mehr Illusionen haben, wie ein von Trump ausgehandelter Ukraine-Deal aussehen würde.
11. März – Merrill, Wisconsin. Seit zehn Jahren lebt Enrico in den USA. Auf einer Milchfarm in Wisconsin arbeitet der Mexikaner, der in Wirklichkeit anders heißt, an sechs Tagen der Woche zehn Stunden im Schichtdienst. Doch neuerdings macht sich der 43-Jährige große Sorgen: „Wir alle sind nervös.“ Enrico gehört zu den zwölf Millionen irregulären Migranten in den USA. Obwohl die Wirtschaft ohne deren Hilfe nicht auskäme, hat Trump sie pauschal als „Kriminelle“ diffamiert und „das größte Deportationsprogramm der amerikanischen Geschichte“ angekündigt.
Noch ist es ruhig hier draußen auf dem Land. Doch in den Städten verbreiten Razzien Angst und Schrecken. Eine Woche später lässt Trump demonstrativ martialisch 200 Männer in ein berüchtigtes Hochsicherheitsgefängnis in El Salvador ausfliegen. Angeblich handelt es sich um Mitglieder einer venezolanischen Terrororganisation. Doch mindestens ein Migrant wird irrtümlich deportiert: Kilmar Abrego Garcia stammt aus El Salvador, ist mit einer Amerikanerin verheiratet und hat keine Vorstrafen. Der Oberste Gerichtshof der USA fordert seine Rückholung. Doch die Trump-Regierung weigert sich.
20. März – Oval Office im Weißen Haus, Washington. Während der ersten Trump-Amtszeit wurde „The Good Fight“ beim linksliberalen Publikum zu einem Quotenhit. Im Zentrum der fiktiven Streaming-Serie steht die Partnerin einer Chicagoer Anwaltskanzlei, die geschockt über den Wahlsieg des Immobilienunternehmers den Widerstand gegen ihn juristisch und zunehmend auch aktivistisch unterstützt.
Viele Universitäten und TV-Sender, die Trump mit Klagen oder Geldentzug bedroht, knicken unrühmlich ein.
Die Realität der zweiten Amtszeit sieht anders aus: Da unterzeichnet Brad Karp, der Chef der New Yorker Großkanzlei Paul Weiss, im Oval Office eine Unterwerfungserklärung. Eine Woche zuvor hat Trump per Dekret den 1200 Anwälten die Zutrittsberechtigung für Regierungsgebäude entzogen und die Kunden der Kanzlei von Regierungsaufträgen ausgeschlossen. Das sei „existenzgefährdend“, begründet Karp seinen Kotau: Die Kanzlei gesteht angebliche „Fehler“ bei der Untersuchung von Trumps Finanzgeschäften ein, beendet die Förderung von Minderheiten und übernimmt regierungsnahe „Pro-Bono“-Mandate für 40 Millionen Dollar. Viele Universitäten und TV-Sender, die Trump mit Klagen oder Geldentzug bedroht, knicken ähnlich unrühmlich ein.
21. März – Civic Center Park, Denver. Es hat lange gedauert. Doch allmählich formiert sich Protest im Land – wie an diesem Tag in Denver. 34.000 Menschen sind vors Kapitol von Colorado gekommen, wo Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez gegen Oligarchie und Autokratie in Washington wettern. Nicht zufällig werden ein 83-jähriger parteiloser Alt-Linker und eine 35-jährige progressive Nachwuchshoffnung zu den Gesichtern der Opposition. Das Establishment der Demokraten wirkt ratlos im Umgang mit Trump. Soll man das Fieber einfach abwarten und darauf setzen, dass die enttäuschten Wähler den Präsidenten bei den Kongresswahlen 2026 abstrafen? Oder beschädigt Trump die Demokratie bis dahin derart massiv, dass entschiedener Widerstand das Gebot der Stunde ist?
Die meisten Zuhörer in Denver haben eine klare Meinung. „Ich habe die Nase voll von den Demokraten“, empört sich Colleen Luckett. „Die stecken in den Taschen ihrer Geldgeber.“ Auch ihr Mann Bryan Coulter findet die Opposition viel zu zahm: „Die müssen endlich aufstehen und laut Alarm schlagen!“

1. April – Eine Weinhandlung in Nordwest-Washington. Die Stammkunden haben sich noch schnell eingedeckt. Das Regal mit europäischen Weinen in dem sonst gut sortierten Laden an der Connecticut Avenue ist halb leer geräumt. „Nachschub ist unterwegs“, versichert der Händler. Der Container soll in den nächsten Tagen anlanden. Doch glücklich wirkt der Geschäftsmann nicht. Er weiß nicht, wie viel Zoll die Beamten draufschlagen werden. Zehn Prozent? 25 Prozent? Oder gar 200 Prozent? Alle diese Zahlen hat Trump genannt. Im letzten Fall wären Chianti und Champagner unverkäuflich.
„Es herrscht das totale Chaos“, stöhnt ein Weinhändler in Washington
Am Tag darauf enthüllt der Präsident im Rosengarten das große Geheimnis: Mit 20 Prozent will er Produkte aus Europa belasten. Eine Woche später sind es plötzlich zehn Prozent. Dafür schießen die Zölle für Einfuhren aus China auf 145 Prozent. Fast jeden Tag gibt es neue Ansagen. Nicht nur die Finanzmärkte spielen verrückt. „Es herrscht das totale Chaos“, stöhnt der Weinhändler.
14. April – Dena‘na Konferenzzentrum, Anchorage. Knapp 5500 Kilometer von Washington entfernt wagt Lisa Murkowski offen zu reden. Eigentlich solle der Kongress den Präsidenten kontrollieren, referiert die langjährige republikanische Senatorin von Alaska bei einer Veranstaltung mit 500 Gästen in ihrer Heimat. Dann räumt sie ein: „Im Moment gleicht der Kongress nicht so aus, wie er es müsste.“ Tatsächlich haben sich beide republikanisch dominierten Kammern unterworfen. Nicht ein einziges Mal haben sie protestiert, als Trump seine Kompetenzen überschritt, und seinen Haushalt bereitwillig abgesegnet. Murkowski gilt als vergleichsweise moderat. Ihr Mandat läuft bis 2028. Doch auch sie ist einer direkten Konfrontation mit dem Parteiherrscher stets aus dem Weg gegangen.
„Wir haben alle Angst“, gesteht die 67-Jährige nun. Das Bekenntnis scheint sie selbst zu schockieren. Mehrere Sekunden hält sie inne. Dann fügt sie an: „Oft bin ich besorgt, meine Stimme zu erheben. Die Gefahr der Vergeltung ist real.“
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