Und dann spricht Alice Weidel direkt in die Kamera. Neben ihr stehen die anderen Kanzlerkandidaten, aus Zuschauerperspektive von links: Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Friedrich Merz (CDU/CSU). Ganz rechts: sie, die AfD-Chefin. Weidel bekommt 60 Sekunden, beste Sendezeit, live und von niemandem unterbrochen. „Wir sind das Land mit den höchsten Energiepreisen weltweit“, sagt sie – und verbreitet damit Desinformation. Später wird das in Faktenchecks richtiggestellt, doch die im Schnitt 7,55 Millionen RTL-Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht das zu diesem Zeitpunkt nicht. Ob es da nicht schlau wäre, den Schlagabtausch aufzuzeichnen und während der Sendung Richtigstellungen einzublenden?
In „Das Quadrell – Wer war am besten?“ übt Moderatorin Ruth Moschner anschließend Grundsatzkritik: Dass eine Alice Weidel als Vertreterin einer in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuften Partei überhaupt in so einer Sendung stattfinde, sei „ein Schlag ins Gesicht für die Demokratie“. Weidel repräsentiere ein Fünftel der deutschen Wähler, hält ihr „Let‘s Dance“-Juror Joachim Llambi entgegen. Moschner und Llambi? Es ist das übliche Unterhaltungsfernsehpersonal.
Tragen die Shows zur Normalisierung der AfD bei?
Es sind Szenen, die zwingend in eine erste Bilanz über die TV-Debatten-Formate mit den Kanzlerkandidaten gehören. Weil sie ein Schlaglicht auf die Debatte werfen, die die Debatten begleitet hat: Wie sollte man umgehen mit der AfD, deren Hauptthema Migration diesen Bundestagswahlkampf dominiert? Für eine Spiegel-Kommentatorin ist klar: All die Shows, in denen Weidel mit Scholz, Merz und Habeck auftrete, „tragen zur Normalisierung“ der AfD bei.
Marcus Maurer, Experte für TV-Duelle von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, findet es dagegen „richtig und wichtig“, die AfD zu solchen Debatten einzuladen – damit die Zuschauer erfahren, welche Ziele die Partei jenseits des Migrationsthemas verfolgt. „Weidel ist in den Debatten zum Teil sehr kritisch befragt worden und sah da nicht immer souverän aus“, sagt er und verweist auf die ebenfalls kritische Nachberichterstattung.
An TV-Debatten herrscht in diesem Bundestagswahlkampf wahrlich kein Mangel. Fast täglich haben sich Kandidaten duelliert, trielliert oder – erstmals – quadrelliert. Sie trafen in Zweier-, Dreier- oder Viererkonstellationen aufeinander und wurden in einer Vielzahl weiterer Formate befragt, porträtiert, thematisiert. Zu viel des Guten? So sieht es zum Beispiel eine Kommentatorin der Berliner Morgenpost. Sie stellt einen Abnutzungseffekt fest, dank „immer denselben Fragen und Phrasen“.
Im TV-Duell Scholz gegen Merz bei Welt TV menschelt es
In dieser Hinsicht hebt sich am Mittwochabend das TV-Duell von Welt TV und Bild ab. „Welcher Schicksalsschlag in Ihrem Leben hat sie besonders geprägt?“, werden Scholz und Merz gefragt. Eine unangemessene Frage? Scholz antwortet: „Mein Leben ist sehr gelungen, was mein privates Leben, was die Liebe betrifft“. Merz erwähnt den frühen Tod von zweien seiner drei Geschwister, der „tiefe Spuren“ in seiner Familie hinterlassen habe. Es menschelt.
Was in den Sendungen fast völlig untergeht, ist mit dem Klimaschutz das zentrale Thema des Bundestagswahlkampfes 2021. Auch Bildung, Pflege, Rente, digitaler Fortschritt sind zu Randthemen geworden.
Jetzt, gegen Ende des „Kampfes ums Kanzleramt“ im Fernsehen, wirkt der Spitzengrüne Habeck noch ermatteter und AfD-Chefin Weidel noch genervter als sonst. Der noch amtierende SPD-Kanzler Scholz, der sich seit dem ersten TV-Duell am 9. Februar in ARD und ZDF eher wie ein Herausforderer präsentierte, ist nach Ansicht politischer Beobachter gerade wegen seiner völlig unrealistischen Siegchancen aufgeblüht. Erleichterung, dass es wohl bald vorbei ist? Noch-Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz wiederum machte in den TV-Formaten keine nennenswerten Fehler, entschied sie Blitz-Umfragen zufolge für sich und habe, hieß es, sich immer stärker „kanzlerlike“ verhalten. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz stellte ihn kürzlich eine Moderatorin, die Vorsitzende des Warschauer Sicherheitsforums, bereits als „Kanzler“ vor.
Einschaltquoten und Marktanteile der TV-Duelle waren durchweg hoch
Zu einer ersten Bilanz der TV-Debatten-Formate mit den Kanzlerkandidaten gehört nicht zuletzt: Quoten und Marktanteile waren durchweg hoch, allein das erste TV-Duell sahen bei einem Marktanteil von mehr als 40 Prozent im Schnitt 12,26 Millionen Menschen. Bemerkenswert: das große Interesse jüngerer Zuschauergruppen. Sowie: Antworten auf die Fragen von Bürgerinnen und Bürgern in „Wahlarena“ (ARD) oder „Klartext“ (ZDF) waren häufig erkenntnisreicher als das, was etwa Quadrell-Fragenstellerin Pinar Atalay wissen wollte: „Was ist schlimmer für Sie: Opposition oder Dschungelcamp?“ In den Umfragen schlugen sich die TV-Debatten nicht durch. Die Parteien verharren seit Wochen bei ihren jeweiligen Werten.
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