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Marcel Reif spricht über AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl: „Mein Vater muss im Grab rotieren“

Interview

Marcel Reif zum AfD-Erfolg: „Mein Vater muss im Grab rotieren“

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    Marcel Reif kritisiert die Parteien, dass sie der AfD nicht thematisch das Wasser abgräbt.
    Marcel Reif kritisiert die Parteien, dass sie der AfD nicht thematisch das Wasser abgräbt. Foto: W. Randerath, Imago

    Herr Reif, jeder fünfte Abgeordnete im neuen Bundestag ist Mitglied der AfD, einer in weiten Teilen rechtsextremen, antisemitischen und rassistischen Partei. Sie sind Sohn eines Holocaust-Überlebenden. Was macht das mit Ihnen?
    MARCEL REIF: Das entsetzt mich. In den letzten Tagen und Wochen war ja viel von Tabubrüchen die Rede. Aber das ist für mich der ursprüngliche, der eigentliche Tabubruch: Dieses Land ist dahin gekommen, dass ein Fünftel der Menschen glaubt, eine in Teilen gesichert neonazistische, faschistische und rassistische Partei könne die Antwort auf alle Fragen geben kann. Das ist entsetzlich.

    Es hieß, der mutmaßliche neue CDU-Kanzler Friedrich Merz habe einen Tabubruch begangen, als er just an jenem Tag, an dem der Opfer des Holocaust im Bundestag gedacht wurde, einen Entschließungsantrag einbrachte, der nur mit den Stimmen der AfD angenommen wurde. War das aufgrund des Datums noch einmal verwerflicher?
    REIF: Das war doch nicht nur der Herr Merz und das, was CDU und AfD da gemeinsam gemacht haben. Es ging doch auch darum, wie die anderen reagiert haben, die politische Mitte, die dieses Land tragen und regieren muss, sonst niemand. Diese Mitte hat alles andere als Ruhmesblätter abgeliefert an diesem Tag. Mit diesem Antrag konntest du nichts regeln oder beeinflussen, nur Wahlkampf führen. Das war eine Wahlkampfveranstaltung. Jedenfalls waren alle Handelnden nicht in der Lage, diesem Gedenktag gerecht zu werden. Und die, die dann vor Vergnügen jaulend und jauchzend gefeiert haben, haben sich natürlich selbst decouvriert. Aber macht es die Sache besser? Nein. Andererseits: Also sind nun ein Fünftel der Bevölkerung dieses Landes Neonazis, Faschisten, Rassisten? Das kann doch niemand ernsthaft behaupten. Es gibt nur eine Chance: Du musst der AfD die Wähler wegnehmen und sie zurückgewinnen. Du musst die AfD thematisch stellen. Das ist im Wahlkampf hin und wieder gelungen, Frau Weidel thematisch an einigen Punkten so zu stellen, dass sie, ich will mich nun im Ausdruck nicht vergreifen, aber dass sie jedenfalls ziemlich blank dastand.

    Das wichtigste Thema vor der Wahl war die Migration. Sie und Ihre Familie waren Migranten. Wie empfanden Sie die Diskussionen?
    REIF: Wenn wir über Migration und über Asyl sprechen, dann müssen wir das natürlich differenziert tun. Wenn es Ihnen gelingt, jeden Migranten, jeden Asylanten, der hier straffällig geworden ist, auszuweisen, helfe ich sofort mit. Der hat jedes Recht auf Asyl oder Hilfestellung verwirkt. Asyl, habe ich mir übrigens erklären lassen, ist keineswegs ein selbstverständliches Grundrecht. Sondern Asyl gewährt ein Staat. Ein Staat muss das nicht zwanghaft tun. Inzwischen haben wir da einen Kontrollverlust. Der Staat muss wieder dahin kommen, dass er die Kontrolle zurückgewinnt. Gelingt dies nicht, öffnet das die Wege und die Schleusen für die AfD und den Wählern, die denen aufs Glatteis laufen. Und anderseits: Asyl, Hilfe für wirklich Schutzbedürftige – das dürfen doch keine Schimpfwörter werden!

    Wie fatal waren in diesem Zusammenhang die Anschläge in Magdeburg, Aschaffenburg, München?
    REIF: Alle einzeln zu bewerten, in der Summe aber natürlich eine Katastrophe. Der Anschlag in München passierte übrigens keine 100 Meter von hier entfernt. Ich wohne hier gleich um die Ecke. An dem Tag habe ich gesagt: Ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Ich habe es satt. Ich schwöre Ihnen, ich hatte an diesem Tag Momente, in denen ich mir dachte: Wenn jemand das schnell hinkriegt, rigoros, bin ich dabei. Und wenn sie dabei das Kind mit dem Bade ausschütten, und wenn wir alles an Wertekanon verlieren, was sich dieses Land zum Glück mühsam aufgebaut hat, dann ist das natürlich grauenvoll. Aber schauen Sie: Ich bin kein Apostel von Herrn Söder, und das werde ich in diesem Leben auch nicht mehr werden, aber wenn der die Worte „Law and Order“ in den Mund nimmt, kriegt er sofort einen solchen Shitstorm und einen solchen Widerspruch . . . Dabei heißt „Law and Order“ einfach nur „Recht und Ordnung“. Wenn dieser Staat nicht in der Lage ist, mir Sicherheit zu gewähren, Recht und Ordnung, dann ist er denen ausgeliefert, die es mit ihren Methoden hinkriegen könnten, möglicherweise. Wollen wir das? Der Kontrollverlust in diesem Lande und die Art, wie hier Politik gemacht wurde von denen, die es hätten besser wissen müssen und können, das ist unerträglich. Und da ersetzen auch „Brandmauern“ nicht sinnvolles politisches Handeln.

    In einer Demokratie gibt es nun mal keine hundertprozentige Sicherheit.
    REIF: Natürlich nicht. Und ich weiß auch, dass die Sichtweise, dass wir wieder Kontrolle übers eigene Land erhalten müssen, platt ist und sehr kurz gesprungen. Mir fehlt derzeit aber die Kraft, weiter zu springen. Das, was hier in München getan wurde, 100 Meter von meiner Wohnung entfernt getan wurde, hat mich im Innersten erschüttert. Alles, was man tun kann und muss, damit ich mich in diesem Lande wieder sicherer fühle, das verlange ich. Nicht weit von hier ist der Hauptbahnhof, und da hinten ist die Bonifaz-Abtei, da gibt es Armenspeisungen. Das entwickelt eine Magnetwirkung. Wenn es dunkel ist, geht meine Frau nicht mehr unbeschwert auf die Straße. In München, in Deutschland haben wir inzwischen No-Go-Areas. Auch das ist etwas, was die AfD zu 20 Prozent getrieben hat.

    Beispiel Aschaffenburg. Der afghanische Attentäter war ganz offensichtlich psychisch krank. Es gab offenbar keinen islamistischen Hintergrund. Und dennoch wurde der Anschlag von Politikern instrumentalisiert, um eigene Ziele voranzutreiben.
    REIF: Neulich kam mir ein absurder Gedanke in den Sinn: Okay, wenn ich Glück hab, bringt mich ein psychisch Gestörter um. Wenn ich Pech hab, ist es ein Islamist. Oder wie? Schauen Sie doch zurück in diese Bundestagswoche mit dieser AfD-Abstimmung: Da wurden Dinge doch von allen instrumentalisiert. Die einzigen, die davon profitiert haben, waren die, die gar nichts zu bieten haben, außer Pseudo-Lösungen und ein Verändern dieses Landes in eine Richtung, die ich nicht mittragen möchte, wenn ich hier lebe. Das ist doch die Falle, in der wir sitzen im Moment. Die Migration kann jedenfalls nicht weiter politisch so gehandelt werden, wie das über Jahre passiert ist. Gut gewollt ist meist nicht die hübscheste Schwester von gut gemacht. Es war ein Politversagen der Mitte. Ich bleibe bei dieser Mitte, immer wieder. Ich will weder Links- noch Rechts-Radikalismus. Ich brauche keinen -ismus. Ich möchte konkrete Politik. Gibt es die einfachen Lösungen? Nein. Muss man dicke Bretter bohren? Ja. Ist das eine europäische Aufgabe? Ja. Aber nichts tun und laufen lassen und Trauerreden halten mit immer den gleichen Begriffen, so dass mir kotzübel wird, wenn ich das noch einmal höre, kann nicht die Lösung sein.

    Den AfD-Landes- und Fraktionsvorsitzenden von Thüringen, Björn Höcke, darf man gerichtlich erlaubt als Nazi bezeichnen. Alice Weidel würde ihn bei einer Regierungsbeteiligung gerne zum Minister machen. Graust es Sie da nicht?
    REIF: In diesem Moment bin ich „Fan“ von Frau Weidel und Herrn Höcke. Die machen doch wenigstens haarsträubende Fehler. Man muss sie doch nur hören und erkennen. Damit decouvrieren sie sich selbst. Höcke war schon immer mit Abstand mein „Lieblings“-AfDler, weil ich denke: Komm, gib mir noch einen Halbsatz, dann haben wir dich! Und Weidel stellt sich jetzt hin und sagt: Der wird bei mir Minister. Das traut die sich bereits. So wenig Klarblick traut sie diesem Land und den Wählern und der politischen Mitte zu. Die Grenzen sind verschoben. Das ist so absurd. Mein Vater muss im Grab rotieren.

    Vor gut einem Jahr durften Sie am Holocaust-Gedenktag im Bundestag eine viel beachtete und dann hochgelobte Rede halten. Wie kam es dazu?
    REIF: Ich habe mich gewehrt mit Händen und Füßen . . .

    ... glaube ich nicht.
    REIF: . . . mit Händen und Füßen. Müssen Sie mir glauben. Ich sagte mir: Ich habe nix zu sagen. Ich rede nicht für meinen Vater, denn mein Vater wollte nicht sprechen. Wie komm ich also dazu, dass ich jetzt rede. Plus: Es spricht eine Überlebende des Holocaust vor mir. Was hab ich denn dann noch zu sagen! Ich bin bloß ein Sohn und nicht Handlungsreisender in Sachen Holocaust. Das Thema fasse ich nur ganz vorsichtig an. Aber dann hat mir die Bundestagspräsidentin in mehreren Gesprächen klargemacht, dass die Überlebenden zwar den Holocaust überstanden haben, aber die Biologie nicht außer Kraft setzen können und irgendwann nicht mehr sprechen werden. Und danach: was? Danach machen wir wieder Gedenkstunden, alle ziehen dunkle Anzüge an, Streichquartett, ernste Musik, alle gucken betreten, und danach gehen wir nach Hause, und alles ist wieder okay. Und nächstes Jahr treffen wir uns hier wieder und gedenken wieder der Befreiung des KZ Auschwitz. Und irgendwann ist das nur noch ein Datum. Darum geht es. Es geht um unsere Kinder. Wenn das für sie ein Datum wird, meinetwegen wie: das Römische Reich ist ja auch untergegangen, oder Kaiser Barbarossa gab es von bis . . . Verstehen Sie, was ich meine? Wenn das nur noch ein geschichtliches Datum wird und nicht ein Auftrag für jeden von uns mit dem „Nie wieder“, wenn wir dahin kommen, dann hat dieses Land verloren. Das habe ich verstanden, und deswegen habe ich dann zugesagt.

    Wäre Ihr Vater stolz auf Sie gewesen?
    REIF: Weiß ich nicht. Er hätte vermutlich gesagt: Mach das. Ist wichtig.

    Und was ist das für ein Gefühl, wenn danach der gesamte Bundestag sich erhebt und stehend Applaus spendet?
    REIF: Absurd. Weder wollte ich, dass Frau Baerbock weint, noch dass irgendjemand aufsteht noch sonst was. Sie wissen: Mir ist Eitelkeit nicht fremd. Aber da bin ich kein bisschen auf Effekthascherei aus gewesen. Im Gegenteil: An dem Morgen habe ich meiner Frau gesagt: Bitte setz Dich hin, ich muss dir zwei Passagen vorlesen. Sagt sie: Wieso, du musst doch nicht üben. Sag ich: Weißt du, was ich üben muss: Ich möchte nicht heulen an den zwei Stellen. Ich will da nicht heulen, weil es nicht um meine Emotionen geht, sondern um das, was ich von meinem Vater weitergeben will. Ich habe dann Klöße geschluckt, die waren größer als alle anderen, an die ich mich erinnern mag.

    Zur Person

    Marcel Reif, geboren am 27. November 1949 als Marc Nathan Reif in Walbrzych (Polen), ist ein Schweizer Journalist und Sportkommentator. Seine Mutter war eine deutschstämmige Katholikin, sein Vater polnischer Jude, der den Holocaust überlebt hat. Viele Verwandte Reifs, unter anderem sein Großvater, wurden von den Nazis ermordet. Seine Familie emigrierte 1956 nach Israel. Als er acht Jahre alt war, zog seine Familie von Tel Aviv nach Kaiserslautern, wo sein Vater einen Job bei der US-Armee fand. Reif ist in dritter Ehe verheiratet und Vater dreier Söhne.

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