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Krankenkassenchef rechnet mit Union und SPD ab: Koalitionsvertrag lässt Beiträge explodieren.

Interview

Krankenkassenchef: „Der Beitrags-Tsunami ist vorprogrammiert“

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    DAK-Chef Andreas Storm warnt vor einem Kollaps von teilen des Gesundheitssystems nach dem neuen Koalitionsvertrag.
    DAK-Chef Andreas Storm warnt vor einem Kollaps von teilen des Gesundheitssystems nach dem neuen Koalitionsvertrag. Foto: Marcus Brandt, dpa

    Herr Storm, Sie haben sich als Chef der DAK-Gesundheit vor einer Woche noch die Entwürfe zum Koalitionsvertrag von Union und SPD gelobt. Aber jetzt herrscht bei den Krankenkassen herbe Enttäuschung. Was ist passiert?
    ANDREAS STORM: Positiv ist im Koalitionsvertrag auf jeden Fall das klare Bekenntnis zur Stabilisierung der Beitragssätze – sowohl in der gesetzlichen Kranken- als auch in der Pflegeversicherung. Dieses Leitmotiv begrüße ich ausdrücklich. Doch jetzt kommt das große Aber: Alle in den Entwürfen genannten konkreten Maßnahmen, die das Ziel stabiler Sozialversicherungsbeiträge kurzfristig hätten sicherstellen können, sind aus dem finalen Koalitionsvertrag gestrichen worden. Stattdessen soll eine Kommission gebildet werden, die erst Anfang 2027 Reformvorschläge vorlegen soll. Das ist absurd. Wenn bis dahin nichts geschieht, werden bis zum Frühjahr 2027 ganze Teilbereiche unseres Gesundheitswesens kollabiert sein.

    Wie kommen Sie zu dieser dramatischen Einschätzung?
    STORM: Zu Beginn der Verhandlungen gab es einen Kassensturz. Dabei wurde deutlich, wie desolat die Finanzlage der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung tatsächlich ist. In den Entwürfen war deshalb vorgesehen, dass 2025 und 2026 mehr als 20 Milliarden Euro für die gesetzliche Krankenversicherung und über neun Milliarden Euro für die Pflegeversicherung bereitgestellt werden sollten - als verfassungsrechtlich gebotener Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen. Dazu zählen etwa Zahlungen für Bürgergeld-Empfänger oder ausstehende Rückzahlungen an die Pflegekassen für Vorleistungen während der Corona-Pandemie. Diese dringend nötigen Mittel sind in der Endfassung ersatzlos gestrichen worden.

    Nicht nur der erste Entwurf, auch die Ampel-Koalition hatte versprochen, dass der Bund die vollen Kosten für Bürgergeld-Empfänger von zehn Milliarden Euro im Jahr übernehmen soll, aber auch nie eingehalten....
    STORM: Das ist völlig inakzeptabel. Im Koalitionsvertrag wird die Finanzierung der erweiterten Mütterrente ordnungspolitisch korrekt aus dem Bundeshaushalt übernommen, gleichzeitig werden die Kosten für Bürgergeld-Empfänger, also versicherungsfremde Leistungen in Höhe von jährlich zehn Milliarden Euro, erneut auf die Beitragszahler abgewälzt. Das ist nicht mehr erklärbar.

    Was bedeutet das alles konkret für Beitragszahler?
    STORM: Wenn nicht nachgelegt wird, dann ist mit diesem Koalitionsvertrag ein Beitragstsunami vorprogrammiert. In der Pflegeversicherung droht bereits in diesem Jahr ein Beitragsanstieg, in der gesetzlichen Krankenversicherung spätestens zum Jahreswechsel eine massive Erhöhung des Zusatzbeitrags. Das bedeutet nicht nur eine Zumutung für versicherte Beschäftigte, Rentner und Arbeitgeber, das ist auch Gift für die Konjunktur. Nach drei Jahren wirtschaftlicher Stagnation würden steigende Lohnnebenkosten einen Aufschwung massiv gefährden.

    Um wie viel wird es teurer?
    STORM: Bei der gesetzlichen Krankenversicherung droht ein Anstieg um mindestens einen halben Beitragssatzpunkt. Derzeit liegt der durchschnittlich erhobene Zusatzbeitrag schon bei 2,9 Prozent. Ein weiterer Anstieg über die Dreiprozentmarke ist zum Jahreswechsel mit den jetzigen Beschlüssen unausweichlich. In Verbindung mit steigenden Pflegeversicherungsbeiträgen bewegen wir uns dann in Richtung eines Gesamtsozialversicherungsbeitrags von 43 Prozent. In der Pflegeversicherung ist absehbar, dass spätestens zur Jahresmitte die Mittel im Ausgleichsfonds nicht mehr ausreichen werden. Schon jetzt hat eine Pflegekasse Liquiditätshilfen beantragt – weitere Kassen werden folgen. Ohne die ursprünglich geplante Rückzahlung der Pandemie-Vorleistungen ist eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung noch in diesem Jahr unausweichlich.

    Was fordern Sie jetzt von der neuen Koalition?
    STORM: Die Spirale steigender Sozialbeiträge muss jetzt kurzfristig mit Steuermitteln gestoppt werden. Mittel- und langfristig braucht es tiefgreifende Strukturreformen. Dazu gehört vor allem die Einführung des von Union und SPD vereinbarten Primärarztsystems, die Reform der Notfallversorgung sowie der konsequente Umbau der Krankenhauslandschaft. Aber all das braucht Zeit. Eine so weitreichende Reform wie die Einführung eines Primärarztsystems kann nur gelingen, wenn wir vorher eine Phase der Stabilität erreichen. In einem Umfeld explodierender Beiträge findet eine solche Reform keine Akzeptanz und wäre zum Scheitern verurteilt. Die Menschen brauchen Verlässlichkeit, nicht ständig neue Beitragserhöhungen in wirtschaftlich ohnehin angespannten Zeiten.

    Wird sich die Lage durch die geplante Pflege- und Gesundheitsreform irgendwann entspannen?
    STORM: Wenn eine Pflegereformkommission bis Ende des Jahres Vorschläge erarbeiten soll, kann eine große Reform frühestens 2027 in Kraft treten. Für die gesetzliche Krankenversicherung sogar erst 2028 - wenn die Kommission wie geplant erst im Frühjahr 2027 Ergebnisse präsentiert. Deshalb brauchen wir noch vor der Sommerpause ein Vorschaltgesetz zur Stabilisierung von Gesundheit und Pflege, um die Zeit zu überbrücken, sonst explodieren die Beiträge in der Sozialversicherung. Wenn das klare Bekenntnis zur Beitragsstabilität nicht zum Lippenbekenntnis verkommen soll, muss dringend nachgelegt werden.

    Welche Maßnahmen muss dieses Vorschaltgesetz enthalten?
    STORM: Ein Vorschaltgesetz muss kurzfristig sicherstellen, dass die Ausgaben im System nicht weiter stärker steigen als die Einnahmen. Neben Maßnahmen zur Ausgabenbegrenzung ist darüber hinaus ein Mindestmaß an Mitteln aus dem Bundeshaushalt zur Stabilisierung der Finanzen erforderlich. Die strukturellen Reformen wie das Primärarztsystem, die Notfallreform, der Krankenhausumbau und nicht zuletzt die verstärkte Digitalisierung im Gesundheitswesen werden erst längerfristig ihre volle Wirkung entfalten. Deshalb muss die Politik bereits jetzt eingreifen.

    Die neue Koalition macht viele teure Versprechen – etwa der Infrastrukturfonds, die Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie oder der Mütterrente. Werden da die richtigen Schwerpunkte gesetzt?
    STORM: Ich begrüße ausdrücklich, dass der Umbau der Krankenhauslandschaft nun aus dem Sondervermögen „Infrastruktur“ finanziert werden soll. Das ist ein starkes und richtiges Signal. Aber ansonsten fehlt es an jeder konkreten Maßnahme zur finanziellen Stabilisierung des Gesundheitswesens. Das reicht nicht.

    Zur Person: Andreas Storm (60) ist seit sieben Jahren Chef der DAK-Gesundheit, die zu den fünf größten Krankenkassen Deutschlands zählt. Zuvor war der Ökonom unter anderem CDU-Sozialminister im Saarland.

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