Herr Pörksen, was hat Sie am laufenden Bundestagswahlkampf bislang am meisten überrascht?
Bernhard Pörksen: Mich überrascht, dass dieser Wahlkampf die gewaltigen Krisen und Herausforderungen unserer Gegenwart eigentlich nicht ernst nimmt. Es müsste um die Klimakrise, den demografischen Wandel, die digitale Revolution und die Überbürokratisierung gehen – stattdessen: ein Wahlkampf lange in einer Wattewelt, Themenvermeidung als das zentrale Prinzip, Wohlfühl-Inszenierungen, bloß taktisches Sprechen.
Weil Spitzenpolitikerinnen und -politiker nur ja niemanden verschrecken wollten?
Pörksen: Man kontert die untergründig spürbare Zukunftsunruhe, indem man Stimmungen produziert, mal positiv, mal populistisch-negativ, Emotion statt Vision, Spektakel-Polarisierung, kein Ringen um programmatische Entwürfe...
Stimmungen sind in der Tat erfolgreich produziert worden: Auf das Siegestor in München wurde illegal ein Foto des Grünen-Kanzlerkandidaten Robert Habeck projiziert, AfD-Chefin Alice Weidel sagte im Gespräch mit Elon Musk auf X, Hitler sei ein Kommunist gewesen. Und mit der Verschärfung der Migrationspolitik aufseiten der Union infolge der Messerattacke von Aschaffenburg gibt es nun ein beherrschendes und hochemotional diskutiertes Thema.
Pörksen: Aber Wählerinnen und Wähler spüren, wenn die Kluft zwischen Emotion und Vision zu groß wird. Sie wissen, dass wir vor gigantischen Herausforderungen stehen: Was wird aus Europa? Was wird aus der Ukraine? Wie geht man mit dem Aufstieg des Populismus um? Wie sieht – jenseits der vorschnellen, kraftmeierischen Ankündigungen – ein Konzept beim Thema Migration und Integration aus, das humanitär ist und gleichzeitig Steuerung erlaubt? Wie kann man die Wirtschaft ökologisch transformieren? In Ansprachen und Wahlwerbespots kommt all dies so gut wie nicht vor.
Vor mehr als 20 Jahren vertrat eine gewisse Angela Merkel relativ radikale Reformideen. Unter anderem wegen ihrer Ankündigung, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, verlor sie dann fast die Bundestagswahl 2005. Mit dem Spruch „Merkelsteuer, das wird teuer“, mobilisierte die SPD.
Pörksen: Taktisch mag es erfolgreich sein, möglichst kein Risiko einzugehen und auf Fehlervermeidung aus zu sein, wie aktuell zu beobachten war. Gesellschaftspolitisch ist es fatal. Es gibt nun einmal Themen, die angesprochen werden müssen. Und die die lange Linie des Denkens sowie die ausgeruhte Entscheidungsfindung brauchen.
Das politische System mit seinen kurzen Wahlperioden ist darauf doch gar nicht ausgerichtet. Ständig ist irgendwo und irgendwie Wahlkampf.
Pörksen: Stimmt, darin liegt eine gewisse Tragik. Es gibt einerseits dramatische Langzeitbedrohungen – und andererseits maximal getriebene, seltsame zukunftsvergessene Debatten, eine Art Kult der Kurzfristigkeit. Aber daran haben Sie als Journalist auch Ihren Anteil – Medien orientieren sich am Aufreger des Moments.
Da haben Sie einen Punkt.
Pörksen: Es war der französische Philosoph Albert Camus, der sagte, Journalisten seien „Historiker des Augenblicks“. Ein weiser Satz.
Aber eine Tageszeitung etwa arbeitet nun einmal tagesaktuell...
Pörksen: Daran ist nichts Verwerfliches. Aber: Es gibt die tagesaktuelle Hektik. Und es gibt die existenzielle Relevanz, die im öffentlichen Diskurs nicht ausreichend präsent ist. Der Grund ist, dass die Aufmerksamkeits- und Darstellungsmuster der Politik, des Journalismus und der sozialen Medien nicht zu den Langzeit-Krisen unserer Zeit passen. Nehmen Sie das Gespräch von Weidel und Musk in dessen Netzwerk X. Für mich hat das eine zeitdiagnostische Bedeutung.
Ist das nicht zu viel der Ehre?
Pörksen: Aufschlussreich und vielsagend ist allein schon das Zustandekommen des Gesprächs – nämlich, nachdem Musk in der Zeitung Welt eine Wahlwerbung für die AfD unterbringen durfte. In der Tat war es kein inhaltsvolles Gespräch auf X – eher ein Lehrstück des Anti-Journalismus: wechselseitige Bestätigung, Gekicher der AfD-Chefin, komplett unsinnige Einlassungen beider Seiten.
Allerdings ist Musk kein Journalist, sondern der reichste Mann der Welt und Einflüsterer von US-Präsident Trump.
Pörksen: Und damit sind wir bei dem, was das X-Gespräch so brisant macht: Es zeigt, dass sehr reiche, sehr mächtige digitale Feudalherren und Journalismusverächter in einer ganz neuen Direktheit Angriffe auf die klassischen Medien und damit auf unsere Demokratie fahren.
An wen denken Sie?
Pörksen: Amazon-Gründer und Washington Post-Besitzer Jeff Bezos ließ eine Wahlempfehlung seiner Zeitung für Trump-Gegenkandidatin Kamala Harris stoppen. Und eine renommierte Karikaturistin trat zurück, weil eine Karikatur von ihr nicht erscheinen durfte, die Bezos’ Kniefall vor Trump zeigt. Jenem Trump übrigens, der vom Geschöpf zum Programmdirektor der globalen Erregungsindustrie aufgestiegen ist. Auch Meta-Chef Mark Zuckerberg hat sich Trump unterworfen. Er schafft in den USA Faktenchecks auf Facebook und Instagram ab und bedient in Interviews rechtspopulistische Narrative von der angeblichen Verkommenheit des seriösen Journalismus. Elon Musk wiederum griff mehrfach in den Bundestagswahlkampf ein und empfahl in apokalyptischer Rhetorik, die Vertreterin einer in Teilen rechtsextremen Partei zu wählen, nur so könne Deutschland gerettet werden.
Er äußerte seine Meinung.
Pörksen: Das Problem ist, dass er ein Riesenmegafon besitzt. Er hat mit X sein eigenes soziales Netzwerk und mehr als 200 Millionen Follower. Ihm kommt es auf Geld nicht an. Und auf X verbreiten sich mit großer Wucht antisemitische Postings, Hamas-Propaganda, rassistische Attacken, Desinformation – viel zu viel bleibt stehen.
Was schließen Sie daraus?
Pörksen: Man sieht: Musk und weitere US-Milliardäre sind libertäre Staatsfeinde, die jetzt staatliche Macht bekommen. Es geht ihnen nicht nur um ihren wirtschaftlichen Vorteil. Musk zum Beispiel vertritt ein radikal zügelloses Konzept von Meinungsfreiheit. Die gesteht er jedoch nicht allen gleichermaßen zu und lässt auf X seine Beiträge bevorzugen. „Freedom of speech“ heißt in der Welt von Elon Musk eigentlich: „Freedom of my speech“.
Klingt dramatisch.
Pörksen: Fakt ist: Wir erleben ein merkwürdiges Paradox – einerseits eine Öffnung des Kommunikationsraumes. Ganz viele Menschen haben auf einmal eine Stimme, die zuvor keine hatten. Wunderbar! Andererseits erleben wir eine tatsächlich dramatische Vermachtung, eine Re-Feudalisierung der öffentlichen Welt – ganz wenige Menschen haben unendlich viel Macht, sich Gehör zu verschaffen.
Was also schlagen Sie vor?
Pörksen: Drei Punkte. Erstens braucht es eine gewaltige Bildungsanstrengung, um Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit zu fördern. Es reicht einfach nicht, ein paar Paletten mit iPads an einem regnerischen Morgen über den Schulgebäuden der Republik abzuwerfen. Es braucht lange schon ein eigenes Schulfach – das jedoch vermutlich nie kommen wird. Denn das Schulsystem agiert angesichts der digitalen Umwälzungen, in denen wir uns befinden, viel zu behäbig und langsam. Zuversichtlich stimmen mich die Bemühungen von Journalistinnen und Journalisten, die in die Schulen gehen und dort Medienkompetenz-Workshops anbieten.
Zweitens?
Pörksen: ...braucht es vonseiten der EU Regulierungsanstrengungen für soziale Medien und einen entschiedenen Kampf gegen Desinformation und Hassrede. Hier ist man auf einem guten Weg. Drittens müssen wir um bessere Debatten ringen, um die Kunst des konstruktiven Streits. Hier ist die gesellschaftliche Mitte gefordert wie nie zuvor, gerade weil es in der öffentlichen Welt eine Dominanz der Lauten gibt.
Sind es nicht auch erhebliche Teile der „Mitte der Gesellschaft“, die die AfD in Umfragen zur Bundestagswahl auf über 20 Prozent heben?
Pörksen: Die Gründe für den Aufstieg der AfD und des Populismus in Deutschland liegen sicher nicht nur an der Raffinesse und Intensität der Propaganda in sozialen Medien, sondern auch an Versäumnissen der politischen Mitte zum Beispiel beim Thema Integration und Migration, die viele Menschen umtreiben, unabhängig davon, ob mir dies selbst angemessen erscheint und gefällt. Wir müssen, besonders in Wahlkampfzeiten, wieder über politische Ideen, Konzepte, Programme debattieren und auch streiten – aber inhaltlich, nicht stimmungsgesteuert.
Dann gefällt Ihnen gewiss die Kommunikationsstrategie des Spitzengrünen Habeck. Der führt „Küchentisch-Gespräche“ und versprach: „Wir hören zu.“
Pörksen: Das ist ein Fassaden-Zuhören, begleitet von einem Filmteam, das die besten und berührendsten Szenen zusammenschneidet. Zuhören, wie ich es verstehe, ist nichts für das Wahlkampfgetöse. Mir geht es in meinem neuen Buch um eine andere Form von Offenheit, um eine echte Bereitschaft, sich wirklich und vorbehaltlos mit dem anderen auseinanderzusetzen.
Sie erzählen in Ihrem Buch „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ von Ihrem einstigen Klassenlehrer an einer Freien Waldorfschule, der Sadist war. Warum?
Pörksen: Klar, persönliche Geschichten sind erst einmal ungewöhnlich für einen Wissenschaftler. Aber: Ich habe für dieses Buch manchen Menschen über zehn Jahre hinweg immer wieder zugehört, sie besucht, ihr Ringen um das Gehörtwerden rekonstruiert. Wenn man Offenheit einfordert, ist man selbst zu einer gewissen Offenheit verpflichtet. Wenn man will, dass der andere authentisch spricht, muss man dies selbst tun. Ich erzähle von dem Lehrer und wie er manche von uns attackierte aber noch aus einem anderen Grund. Denn ich bin der Auffassung: Jeder Mensch trägt etwas mit sich herum, das man eine Tiefengeschichte aus Erfahrung und Erkenntnis nennen könnte. Diese Tiefengeschichte macht einen hellhörig, beispielsweise für das Schicksal anderer.
Was ist Ihre Tiefengeschichte, die es erlaubt, Sie etwas besser zu verstehen?
Pörksen: Diese Tiefengeschichte kann ich nicht zu einem Satz verdichten, das wäre nur eine Schrumpfform und Verkürzung dessen, was ich zu sagen versuche. Tut mir leid. Sie findet sich im Buch. Nur soviel: Ich behaupte, dass wir hören, was wir zu fühlen vermögen. Das Erlebte macht uns resonanzfähiger, feinfühliger, sensibler.
Zur Person
Bernhard Pörksen, 1969 in Freiburg im Breisgau geboren, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. In Büchern und Beiträgen befasst er sich mit Skandalen und dem Gelingen von Kommunikation. Sein neues Werk: „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ (Hanser Verlag, 336 Seiten, 24 Euro).
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