Es ist 7 Uhr, die Menschenschlange zum Petersplatz ist schon mehr als 500 Meter lang. Soeben hat sich die Regensburger Delegation an der Piazza del Risorgimento unter die Wartenden eingereiht, ein müder Körper mit orange-gelbem Pilgertuch drängt sich neben dem anderen. Die Stimmung in der bayerischen Reisegruppe ist an diesem Donnerstag von Zuversicht geprägt, auch weil es bald schubweise in Richtung Petersdom vorwärtsgeht.
Dort, vor dem Hauptaltar, liegt seit Mittwoch der Leichnam von Papst Franziskus aufgebahrt. Die Menschen können sich noch bis Freitagabend von ihm verabschieden, am Samstagmorgen folgt die Begräbnisfeier. Obwohl Jorge Bergoglio aus Buenos Aires ja als ein Papst zum Anfassen galt, ist dieser Andrang doch erstaunlich. 61.000 Menschen haben sich innerhalb der ersten 26 Stunden von Franziskus verabschiedet. Erst um 5.30 Uhr am Donnerstagmorgen schloss die Basilika, nur um eineinhalb Stunden später wieder zu öffnen.
Haben die meisten diesen nahbaren, aber von rechts wie links kritisierten Kirchenmann stärker verehrt und geliebt als gedacht? Liegt es womöglich daran, dass der Tod versöhnt, wie es heißt? Einer aus der bayerischen Gruppe, seinen Namen will er nicht nennen, sagt: „A Erlebnis is des, des hat man ja noch nicht erlebt sowas.“
Und so hat die Menschen offensichtlich auch eine gewisse Neugier hierhergeführt. Die Teilnehmer der Regensburger Diözesanwallfahrt zum Beispiel saßen am Ostermontag als Pilger anlässlich des Heiligen Jahres im Bus Höhe Brenner, als sie die Nachricht vom Papst-Tod erreichte. Statt Heiliger Pforte und Generalaudienz steht nun also dieses unerwartete Großereignis auf ihrem Programm. „Anders wär's schöner gewesen“, sagt der bayerische Pilger.
Viele der Wartenden sind zufällig in Rom, sie haben Ostern in der Stadt verbracht
Franziskus war den Regensburgern nicht unsympathisch, ergibt eine kleine Umfrage. „Dass er so viel für die Armen übrig hatte, war schon beeindruckend“, meint eine Frau in brauner Jacke, auch sie mit Pilgertuch um den Hals. Benedikt XVI., dem „bayerischen Papst“, dem habe man sich in Regensburg gleichwohl näher gefühlt. „Des war unser Papst“, sagt die Frau. Dann diskutiert die Gruppe kurz, ob einer der drei deutschen Kardinäle, die den nächsten Papst wählen dürfen – Rainer Maria Woelki, Reinhard Marx oder Georg Ludwig Müller – Chancen auf die Franziskus-Nachfolge haben könnte. Es wird wenig später unisono ausgeschlossen.
In der Hunderte Meter langen Warteschlange wird, verständlicherweise, viel gegähnt. Zwei dem Papst irgendwie ergebene Erasmus-Studentinnen aus Heidelberg stehen mit an, afrikanische Ordensschwestern, philippinische Priester, eine ältere Signora aus Rom sowie drei orthodoxe Aramäer aus Stockholm, deren mutmaßlicher „Anführer“ namens Napoleon entschieden erklärt: „Franziskus war ein guter Mann!“

Viele der Wartenden sind zufällig in Rom, sie haben Ostern in der Stadt verbracht und wollen diese historischen Tage nun miterleben. Es ist 8 Uhr geworden: Personenkontrolle am Petersplatz. Dabei muss man nicht nur durch den Metalldetektor, sondern auch einen Schluck aus der eigenen Wasserflasche nehmen, um die Mitnahme von explosiven Stoffen oder Giften demonstrativ auszuschließen. Plötzlich steht da eine Frau mit einer Argentinien-Fahne, die sie um die Schultern gelegt hat. Maria Cristina ist Argentinierin, lebt aber in Macerata in den italienischen Marken, wo sie an diesem Morgen um 4 Uhr den Bus nach Rom bestieg.
Sie ist weit gekommen, bloß noch die Stufen hinauf zum Petersdom! Sie wirkt bewegt, glücklich, das Schicksal meint es heute gut mit ihr. Maria Cristina wolle Franziskus danken, sagt sie. Wofür, das lässt sie offen. Ihr Landsmann gefiel ihr einfach, sagt sie. „Er war direkt, treu, half den Armen.“
Jeder hat sein Bild von Franziskus: Eine Argentinierin erinnert sich an ihn als den „vitalen Menschenfänger“
Just, als ein Schwarm Schwalben durch die Luft schwirrt, queren vier Kardinäle die Warteschlange vor dem Petersdom, drüben in der Synodenaula beginnen gleich die täglichen Beratungen. Bei denen geht es auch um das Profil des neuen Papstes. „Hoffentlich hat auch der nächste ein großes Herz“, sagt Maria Cristina. Dann endlich kann sie den Petersdom betreten.
Das Durchschreiten der Heiligen Pforte, eigentlich der Höhepunkt des gerade laufenden Jubeljahres, wird zum sekundären Ereignis, manche berühren die Bronzereliefs mit der Hand. Die Kopie der Pietà von Michelangelo rechts im Inneren bleibt meist unbeachtet. Zu getragener Orgelmusik schiebt sich die Menge langsam nach vorn. Die Kirche ist groß, glänzend und hell. Der Mensch, so wirkt es, soll sich klein fühlen. Maria Christina seufzt.
Ein Ordner mahnt angesichts der vielen gezückten Smartphones, dass man einem „Akt der Besinnung“ beiwohne. „No foto!“, rufen seine Kollegen ohne Unterlass. Schließlich ist man vorn beim Hauptaltar, beim Leichnam des Papstes. Vier Schweizer Gardisten mit Hellebarden wachen am offenen, mit rotem Stoff ausgelegten Sarg. Vor diesem liegt eine rote Rose. Der tote Franziskus trägt Mitra, roten Mantel, schwarze, vielleicht orthopädische Schuhe. Er hält einen Rosenkranz in den Händen. Das Gesicht ist eingefallen, der Ausdruck friedlich. Maria Cristina, der jetzt die Beine zittern, ist irritiert. „Das sieht nicht aus wie er“, findet sie. Auf gleichzeitig sanfte wie bestimmte Weise mahnen die Ordner zum Weitergehen.
Jeder hat sein Bild von Franziskus. Die Argentinierin erinnert sich an den vitalen Menschenfänger, von dem sie am Vortag noch so viele Aufnahmen im Fernsehen gesehen hat. Andere, wie der ehemalige Chef der Glaubenskongregation, Kardinal Müller, sind froh, dass das vermeintliche Chaos in der katholischen Kirche, für das Franziskus gesorgt habe, nun zu einem Ende gekommen sei. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die am Vortag ihre Aufwartung machte, sagte: „Die Welt erinnert sich an Papst Franziskus als den Pontifex der Letzten und Benachteiligten.“ Das ist wohl der gemeinsame Nenner, auf den dieses Pontifikat gebracht werden kann.
Zwei dieser Letzten und Benachteiligten haben an den Kolonnaden des Petersplatzes ein Schild aufgestellt. „Hei!!!“, steht darauf. „Lust auf ein Schwätzchen??? Haltet an!!!!“ Der 53-jährige Davide und der 50-jährige Andrea, beide Italiener, sind Obdachlose, die nachts am Petersplatz ihren Schlafsack ausrollen. Davide hat eine Schildmütze neben das Schild gelegt, darin ein paar Münzen. Gegen 5 Uhr weckt die Polizei die beiden üblicherweise, sie müssen den Platz dann freimachen. Danach klappern die „poveretti“ („arme Dinger“), wie sie sich selber nennen, Kirchengemeinden und Armenküchen in der Umgebung ab.
Die Armen waren im Machtzentrum der katholischen Kirche nicht nur willkommen, sie gehörten dazu
„Früher durften wir uns hier nicht aufhalten“, sagt Andrea und deutet auf eine der Säulen der Kolonnaden, auf deren Fundament sie hocken. Franziskus ließ Duschen für die Obdachlosen am Petersplatz einrichten, WCs und eine Krankenstation. Das ist zwar nicht die Welt. Für Menschen ohne ein Zuhause, die auf der Straße und von der Hand in den Mund leben, haben diese Einrichtungen aber sowohl praktischen als auch symbolischen Wert.
„Wir dürfen hier sein dank Franziskus“, betont auch Davide. Die Armen waren im Machtzentrum der katholischen Kirche nicht nur willkommen, sie gehörten gewissermaßen dazu. Auch oder gerade weil sie mit dem Leben nicht zurechtkommen, schwere psychische Probleme haben, teilweise drogensüchtig oder gewalttätig waren und wie Davide und Andrea schon im Gefängnis saßen.

Davide erinnert sich gut an die ersten 250 Euro, die er vom sogenannten päpstlichen Almosenier Konrad Krajewski ausgezahlt bekam. Der Kardinal leitet die Almosenverwaltung. Zweimal im Jahr können die römischen Obdachlosen einen Brief schreiben, dann kam Geld aus dem Vatikan. Beim ersten Mal mehr, später zwischen 100 und 150 Euro. „Franziskus hat so viel für uns getan“, sagt Andrea. Wenn der neue Papst gewählt sei, würden sie wieder vom Petersplatz gejagt. Da sind sich die beiden sicher.
Im vergangenen Oktober waren Andrea und sein Hund Jacob mit anderen Obdachlosen bei Franziskus im Gästehaus Santa Marta zu Besuch. Der Papst lud die Obdachlosen einmal im Monat ein. Andrea zeigt stolz Fotos, wie Franziskus seinen Jack Russel Terrier streichelt. Vorbei. Am Samstag wird der Papst beigesetzt, nachdem sein Leichnam in einer Prozession durch Rom in die Kirche Santa Maria Maggiore gefahren wurde. Ob Andrea und Davide am Samstag bei der Messe dabei sein werden? „Natürlich“, sagt Davide, „wenn es eine Beerdigung gibt, bei der ich sein will, dann ist es die von Papst Franziskus.“
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