Am Donnerstagmogen hat Russland die Ukraine angegriffen. Präsident Wladimir Putin ordnete den Militäreinsatz trotz vehementer Kritik und Androhung von Sanktionen aus dem Ausland an. Mit fatalen Folgen für das Land:
Ukrainischen Berichten zufolge werden Städte von russischen Raketen attackiert, mehrere Menschen sind tot oder verletzt, zahlreiche sind auf der Flucht. Es herrscht Kriegszustand. Im Allgäu reagieren die Menschen mit Verbindungen in die Ukraine mit Bestürzung auf das Geschehen. Aktuelle Stimmen und Reaktionen aus der Region.
Ukraine Konflikt: Erste Stimmen und Reaktionen aus dem Allgäu

Nataliya Tkachenko aus Kempten sieht die westliche Berichterstattung kritisch
In Dnjepropetrowsk (Dnipro) ist Nataliya Tkachenko 1975 zur Welt gekommen. Die Pianistin, Klavierpädagogin und Musikwissenschaftlerin lebt und arbeitet in Kempten und tritt international auf. Ihre Mutter und weitere Angehörige leben noch in ihrer Heimatstadt. Ins 200 Kilometer entfernte Donezk bestehen Verbindungen über eine Kollegin der Musikhochschule. „Die Menschen dort wollen nicht weg, weil sie fürchten, Hab und Gut und ihre Wohnungen zu verlieren“, sagt Tkachenko. Viele Bewohner fühlten sich seit Jahren im Stich gelassen, viele hofften, dass Ruhe ins Krisengebiet einkehre, jetzt wo die Russen da sind.
Kritisch sieht Tkachenko die Berichterstattung im Westen, die sich russischen Argumenten weitgehend verschließe. Westliche Raketen seien 80 Kilometer vor St. Petersburg stationiert, das werde oft vergessen. Tkachenko hofft innig, dass sich die Nato nicht zu einem militärischen Vorgehen in der Ukraine hinreißen lässt. Größter Verlierer wäre dann neben der Ukraine Deutschland. Die Künstlerin habe schon vor zwei Jahren einen Krieg in der Ukraine vorhergesagt – „wegen der Verstrickungen der Biden-Administration ins internationale Gasgeschäft“.
Larysa Natterer-Babych aus Kempten bangt um ihre Familie
Erschüttert und sehr traurig ist Larysa Natterer-Babych, die aus der Ukraine stammt und in Kempten lebt. „Die Ukraine ist wehrlos; die russischen Truppen überwiegen“, sagt sie. Die Familie ihres Bruders lebt mit zwei Kleinkindern in dem Land, ebenso wie ihr Vater.
Ihr Bruder habe ihr gerade am Telefon berichtet, dass die Gebiete im Osten der Ukraine bereits komplett besetzt seien. Es werde mit Raketen geschossen. Truppen rückten auch über die Grenze zu Weißrussland (Belarus) ein. Bangen muss auch die Schwägerin ihres Bruders: Ihr Mann ist Soldat und wurde an die Grenze zu Weißrussland geschickt. Auch diese Familie hat Kleinkinder.

Natterer-Babych hatte bis zuletzt gehofft, dass Russland von seinem Kurs umschwenkt. Sie würde ihre Verwandtschaft gerne hier aufnehmen und in Sicherheit wissen, nur sei unklar, ob die überhaupt noch aus der Ukraine fliehen könnten. Ganz zu schweigen von der Frage, ob ihr 80-jähriger Vater das Land überhaupt noch verlassen würde.
„Die Grenzen von einigen Gebieten sind bereits gesperrt.“ Larysa Natterer-Babych kam 2004 nach Deutschland, studierte in Ulm Medizin und ist Assistenzärztin beim Klinikverbund. Sie hatte gehofft, dass die Ukraine, die unter anderem an Polen, Rumänien und Ungarn grenzt, näher an Europa heranrückt.

Viktor Weiler aus Memmingen sorgt sich um seine Freunde
„Das ist unfassbar“, sagt Viktor Weiler. „Ich hätte nicht gedacht, dass sich Putin zu diesem Schritt entscheidet.“ Weiler wohnt in Memmingen, hat aber berufliche und private Verbindungen in die Ukraine und nach Russland. Der 54-Jährige hat am Mittwochabend noch mit Freunden in der Ukraine telefoniert. „Alle sind ratlos und machen sich Sorgen.“
Auf die Frage, welches Ziel Russlands Präsident Putin verfolgt, hat Weiler diese Antwort: „Er will in Kiew eine Regierung einsetzen, die ihm folgt. Was danach kommt, ist unklar…“ Eine solche Regierung würde aber von der Welt nicht anerkannt. Weiler glaubt nicht, dass Putin die gesamte Ukraine einnehmen will. „Problematisch finde ich, dass das russische Parlament und auch die Mehrheit der russischen Bevölkerung hinter Putin steht.“
Auch beruflich hat Weiler mit Russland und der Ukraine zu tun. Sein Memminger Arbeitgeber beliefert Firmen in beiden Staaten. „Hier steht schon fertige Ware auf dem Hof. Jetzt ist unklar, ob sie noch rausgeht.“ Man warte ab, wie die Sanktionen der europäischen Union ausfallen. „Aber wir haben Verträge mit unseren Partnern“, weist Weiler auf das wirtschaftliche Dilemma hin.

Memmingen: Oberbürgermeister Manfred Schilder im Gespräch mit Partnerstadt
Sorge um die ukrainische Partnerstadt: Memmingens Oberbürgermeister Manfred Schilder sprach bei einem gestrigen Videoanruf mit seinem Amtskollegen in Tschernihiw und erkundigte sich nach der Stimmung im Land. „Die Lage ist so kritisch wie noch nie“, sagte Oberbürgermeister Vladyslav Atroshenko. Putins Aktion sei außerhalb jeglicher Gesetze, eine militärische Aktion scheine unvermeidbar.
Wie die Lage in der Memminger Partnerstadt aktuell nach Russlands Angriff ist, kann derzeit nicht abgeschätzt werden. „Ich bin entsetzt und zutiefst bedrückt, dass dieser Konflikt nicht diplomatisch gelöst werden konnte. In Gedanken bin ich bei den langjährigen Partnern und Freunden in der Ukraine und hoffe auf eine möglichst baldige Beilegung dieser Militäraktion“, so Schilder.
Bereits im Vorfeld des Gesprächs schickte der Memminger Oberbürgermeister einen Brief an seinen Amtskollegen, in dem er die Solidarität der Stadt und deren Bürger betonte. Zusätzlich verwies auf die territoriale Souveränität der Ukraine, die ebenso wie die künftige Freiheit im europäischen Geiste durch die Krise bedroht sei.
Alexandra Hartge, Leiterin der Stabsstelle Städtepartnerschaften, die den Kontakt mit der Partnerstadt betreut, äußerte sich ebenfalls sehr besorgt. „Die Freundschaft zwischen unseren beiden Städten besteht seit über 30 Jahren und wir tragen sie tief in unseren Herzen. In Gedanken sind wir bei ihnen.“
„Es ist richtiger Krieg“: Raisa Schmidberger aus Memmingen ist fassungslos
„Alle sitzen zu Hause, alle haben Angst. Das hatte niemand erwartet.“ Das sagt Raisa Schmidberger aus Memmingen. Sie kommt aus der Ukraine, wohnt seit 27 Jahren in der Maustadt. Am Donnerstagvormittag hat sie mit der Familie ihrer Schwiegertochter telefoniert, die in der Ukraine lebt. Genauer: In der Memminger Partnerstadt Tschernihiw im Norden der Ukraine, nicht weit von der Grenze zu Belarus entfernt.
Die Familie ihrer Schwiegertochter habe schon die Taschen gepackt, falls sie flüchten muss. Wichtige Papiere, Kleidung, Essen, Getränke. Im ukrainischen Fernsehen werde gezeigt, wie Menschen Essen kaufen, ihre Autos betanken, wie allmählich Panik entsteht. „Panik, das ist es, was Putin will.“ Und er wolle die Sowjetunion wieder zurückhaben. Mit den Baltischen Staaten, mit Polen. „Das ist jetzt richtiger Krieg. Und die Welt muss helfen. Jetzt. Schnell.“ (Lesen Sie hier das komplette Gespräch).

Humanitäre Hilfe aus Kaufbeuren: humedica bereitet Gütertransporte vor
Die Kaufbeurer Hilfsorgansation "humedica" beobachtet nach eigenen Angaben die Lage in der Ukraine "mit großer Sorge". Der Geschäftsführer Johannes Peter sagt: "Unsere Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, die in diesen Stunden um Leib und Leben, Verwandte und Freunde und ihre Zukunft bangen." Versorgungsengpässen nicht nur im Land selbst, sondern auch in den Grenzgebieten seien wahrscheinlich. Aus diesem Grund bereitet humedica Hilfsgütertransporte in die Ukraine und dessen Nachbarländern vor.
"Am dringendsten benötigen die Menschen vermutlich Lebensmittel und Hygieneartikel. Aber auch medizinische Güter wie Verbandsstoffe werden Mangelware sein", so Peter. Unterstützung über Spenden ist erwünscht.

Lebenshilfe Ostallgäu-Kaufbeuren hofft, "dass wir unsere Freunde wieder wohlbehalten treffen können"
„Mit großem Entsetzen müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, was in der Ukraine geschieht,“ zeigt sich Klaus Prestele, Geschäftsführer der Lebenshilfe Ostallgäu-Kaufbeuren betroffen über das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Seit Jahren arbeiten die Lebenshilfe und die ukrainischen Organisationen „Dzvinochok“ (zu Deutsch: Glöckchen) und die Elterninitiative „Träume der besonderen Kinder“ eng zusammen.
Mit der Leiterin der Partnerorganisation, Ludmila Krestianikova, hatte Klaus Prestele heute Morgen bereits Kontakt. „Es sind große Ängste da und das Team vor Ort ist extrem verunsichert, wie die Entwicklungen weitergehen.“ Gerade im Krieg leiden die Schwächsten der Gesellschaft, und diese seien in der Ukraine vor allem die Menschen mit Behinderung, so der Lebenshilfe- Geschäftsführer. Derzeit absolviert etwa Stepan Kiselytsia aus der Partnerregion Tscherniwzi einen Freiwilligendienst in der Heilpädagogischen Tagesstätte der Lebenshilfe in Kaufbeuren. Nächste Woche wird eine weitere ukrainische Freiwillige in Kaufbeuren erwartet. „Wir hoffen sehr, dass wir unsere Freunde bald wieder wohlbehalten treffen können.“

Politikerin Susanne Ferschl aus Kaufbeuren sieht Regierung "dringend gefordert"
Die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Susanne Ferschl aus Kaufbeuren, spricht von einem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands“, den sie „in jeglicher Form verurteilt“. (Lesen Sie auch: Scholz: "Das ist Putins Krieg")
Die Bundesregierung sieht sie nun „dringend gefordert“, auf Russland einzuwirken, damit es zu einem Waffenstillstand kommt und die Parteien an den Verhandlungstisch zurückkehren. Eine Sondersitzung des Bundestags zum Thema hält sie für angemessen. Ob Sanktionen jetzt der richtige Weg sind, könne sie nicht sicher sagen.

Kaufbeurer Bundestagsabgeordneter Stephan Stracke: "Weitere Aggressionen Moskaus unterbinden"
Für den Kaufbeurer Bundestagsabgeordneten Stephan Stracke sind "meine schlimmsten Befürchtungen" am heutigen Donnerstag eingetreten. "Das ist der gewaltigste offene Konflikt in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs", sagt er. Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine trete der russische Präsident die Friedensordnung mit den Füßen und breche das Völkerrecht, um seine Einflusssphäre zu vergrößern.
Stracke fordert: "Wir müssen Russland unmissverständlich die Stirn bieten, um weitere Aggressionen Moskaus zu unterbinden. Ich habe das Gefühl, dass Deutschland, Europa und die westlichen Demokratien zusammenstehen und mit einer Stimme an der Seite der Ukraine sprechen." Jetzt brauche man vor allem spürbare Sanktionen, denn " Russland hängt wirtschaftlich stärker vom Westen ab als umgekehrt." Diese Abhängigkeit mache Putin verletzlich. "Das müssen wir jetzt nutzen. Putins skrupelloser Plan darf nicht aufgehen." (Lesen Sie auch: Baerbock kündigt schärfste Sanktionen gegen Russland an)
Tatjana Kleber aus Seeg bangt um ihre alte Heimat
Erst am Donnerstag hat Tatjana Kleber (64) aus Seeg (Ostallgäu) mit ihrem Bruder gesprochen. Er lebt in der Ukraine. Dem Land, das jetzt ein Kriegsgebiet ist. Was als Konflikt weit weg vom Ostallgäu erscheint, wird plötzlich nahe, wenn man mit Menschen aus Füssen und Umgebung spricht, die um Brüder, Tanten und Freunde bangen.
Kleber kam vor über 30 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Seeg. Bei ihrem Gespräch mit ihrem Bruder sei er gerade vor einer Apotheke gestanden. Ihm gehe es gut. Dort, im Norden, etwa 150 Kilometer von Kiew entfernt, wo der Bruder lebt, sei es noch ruhig. Angst habe sie aber nicht. „Natürlich mache ich mir aber Gedanken“, sagt Kleber. Sie hat Freunde in Russland, auch mit ihnen sei sie in Kontakt. Die würden allerdings nicht allzu viel vom Einmarsch der russischen Truppen mitbekommen. „Ich liebe Russland – und ich liebe die Ukraine.“ Kleber sind beide Länder wichtig, vieles sei dort ohnehin gleich. Sei könne doch jetzt nicht ihre Freunde plötzlich als Feinde betrachten. Wir haben dieselben Gebete, sagt Kleber. Das sei auch das Einzige, was sie hier in Seeg nun tun könne: beten.
Irina Alter aus Füssen kennt beide Seiten und sagt: „Putin ist nicht Russland“
Trotz des Angriffes werden viele Ukrainer ihre Heimat niemals verlassen, sagt Irina Alter aus Füssen. Das gelte auch für ihre Verwandtschaft in Kiew, meint die 66-Jährige. Auch diese würden die derzeitige Situation in ihrem Land kaum einschätzen können. Alter ist seit über 30 Jahren in Füssen. Der Vater aus Russland, die Mutter aus der Ukraine: Alter kennt beide Seiten, hat in Russland gelebt und in Kiew studiert. Zwar habe sie mit einem Angriff Putins gerechnet. Dass die russische Armee wirklich einmarschieren würde, sei aber auch für sie erschütternd gewesen. Das sei es auch, was sie nun fühle. Nicht Angst, sondern vielmehr Wut. Solche Entscheidungen habe mit denen „normaler Menschen“ in den Ländern nur noch wenig zu tun.
Besorgniserregend findet sie, „was jetzt noch kommt“. Die Ungewissheit, wie viele Menschen ihr Leben lassen werden, was nach dem Einmarsch in der Ukraine folgen könnte. Ob die Sanktionen der EU helfen, sei fraglich. Für Alter ist klar: „Putin ist nicht Russland.“ Auch viele Russen seien entsetzt über die Situation. Alter meint, ihren Verwandten gehe es wohl nicht allzu gut. Aber auch sie können derzeit nur die Ruhe bewahren.
Bundestagsabgeordnete Mechthilde Wittmann: "Diplomatische Bemühungen sind gescheitert"
Die Bundestagsabgeordnete für Kempten, das Oberallgäu und den Landkreis Lindau, Mechthilde Wittmann (CSU), sagt: „Der Überfall des russischen Staates auf den Bruderstaat Ukraine ist ein Angriff auf die Freiheit unseres Kontinents. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und der gesamten westlichen Staatengemeinschaft müssen wir hart auf die Aggression Putins reagieren und Russland klare Grenzen aufweisen. So sehr ich es bedauere: Diplomatische Bemühungen sind gescheitert. Auch weil das westliche Bündnis nicht in der Verfassung ist, den russischen Präsidenten zur Diplomatie zu zwingen.“
Die Sanktionen der EU bezeichnete sie als wichtigen Schritt. „Die Finanzsanktionen betreffen 70 Prozent des russischen Bankenmarkts. Sollte sich der russische Präsident und seine Kreml-Clique davon unbeeindruckt zeigen, müssen wir den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift erwägen, wie ihn nicht nur die baltischen Staaten fordern“, so Wittmann. „Damit haben die Konsequenzen des Krieges auch die friedlichen Staaten Europas und der Welt erreicht.“
Füssen organisiert heute Mahnwache anlässlich des Kriegs in der Ukraine
Angesichts der Eskalation in der Ukraine findet in Füssen am Donnerstag, 24. Februar, eine Mahnwache statt. Organisiert wird die Veranstaltung vom Füssener Bündnis für Demokratie und Solidarität. Alle Bürger seien eingeladen, "im stillen Gedenken oder im Gebet" ihre Verbundenheit mit den Menschen in der Ukraine zu zeigen.
"Wir bitten alle, die spontan teilnehmen möchten, eine Kerze auf dem Stadtbrunnen zu entzünden", so die Organisatoren. Die Mahnwache soll von 17 bis 19 Uhr stattfinden. (Lesen Sie auch: UEFA will St. Petersburg das Finale der Champions League entziehen)
Dieser Artikel wird fortlaufend mit weiteren Stimmen aus dem Allgäu aktualisiert.