Es sind Ferien und eigentlich wollte Friedrich Merz einmal ausschlafen. Monate enormer Belastung liegen hinter ihm. Wahlkampf im Winter, Regierungsbildung im Frühjahr, seit dem Frühsommer hat er die Macht. Doch von Ferienruhe ist nichts zu spüren. Merz muss die Scherben zusammenkehren, einmal mehr. Seine einsame Entscheidung, Israel keine deutschen Waffen mehr für den Einsatz im Gaza-Strafen zu liefern, springt ihn an.
Seine eigenen Leute bei CDU und CSU versagen ihm die Gefolgschaft. Sie waren nicht eingebunden und sie gehen nicht mit, dass ein Grundsatz deutscher Außenpolitik umgeworfen wird. Um die Gemüter zu besänftigen, musste Merz für Sonntag eine Videoschalte mit den Außenpolitikern der Union einberufen. Dass die Abgeordneten in der Sommerpause zusammenkommen, ist ungewöhnlich. Es braucht drängende Gründe dafür: die Rettung Griechenlands durch Notkredite. Oder der Schutz der Bevölkerung vor dem Coronavirus. Die Frage der Lieferung von Waffen fällt nicht in diese Kategorie.
Am Sonntag hat Merz keine Wahl mehr und geht doch vor die Kameras
Doch dem Kanzler bleibt nichts anderes übrig, er muss das Kratzen an seiner Autorität beenden. Sonst läuft die Debatte weiter und könnte ihn beschädigen. Das Verhältnis zu Israel gehört zu den sensibelsten Themen der deutschen Politik. Der 69-Jährige hatte sich vorgenommen, für einige Wochen von den Bildschirmen zu verschwinden. Nach der Sommerpressekonferenz Mitte Juli wollte er noch zwei Wochen vom Schreibtisch aus arbeiten ohne große öffentliche Termine, danach ein bisschen Urlaub Anfang August. Nun versuchte er erst, den Schaden aus dem Schatten heraus einzudämmen.

Am Sonntag hat er keine Wahl mehr und geht doch vor die Kameras. Die Diskussion ist ihm entglitten. „Ich habe diese Entscheidung nicht allein getroffen. Aber es ist dann am Ende des Tages eine Entscheidung, die ich allein verantworten muss. Und ich verantworte sie“, sagt er der ARD. Deutschland stehe fest an der Seite Israels. „Daran ändert sich nichts.“
Für die Kontroverse um seine Israel-Entscheidung ist Friedrich Merz selbst verantwortlich
Beklagen über die Aufregung kann er sich bei keinem. Mit der Entscheidung über das Teil-Waffenembargo gegen den jüdischen Staat, dessen Sicherheit doch deutsche Staatsräson sein soll, hat er das Porzellan selbst zerbrochen, dessen scharfkantige Scherben jetzt vor ihm liegen.
Merz musste schon vor Kurzem erfahren, dass man sich böse an derlei schneiden kann. Die Wahl von drei neuen Richtern für das Verfassungsgericht war furchtbar schiefgegangen. Auch in diesem Fall meuterten die eigenen Leute und stellten sich gegen die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf, gegen die zuvor eine heftige Kampagne von Medien vom rechten Rand gefahren worden war. Die Unionsfraktion ließ sich mitreißen, obwohl der Kanzler und sein Fraktionschef Jens Spahn sicher waren, dass die Personalie abgenickt würde.
In einem Interview mit der britischen BBC vor wenigen Wochen wird der Kanzler gefragt, welche Qualitäten eines Piloten nützlich für das Führen eines Landes seien. Merz hat einen Pilotenschein. „Für einen Piloten ist es wichtig, immer vor dem Flugzeug zu sein. Immer vorauszudenken“, sagte er. Es ist ihm in den zurückliegenden Monaten nicht immer gelungen, die Operationen zu Ende zu denken.
Friedrich Merz blickt auf einige umstrittene Aktionen zurück
Noch als Oppositionsführer geht er trotz lauter Warnungen voll ins Risiko, um eine harte Gangart in der Asylpolitik zu erzwingen. Er bekommt eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD und verliert. Die Bundestagswahl gewinnt er, wenn auch nicht glänzend. Bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD gelingt es ihm, das eigene Lager mit einem überraschenden Sprung zu übertölpeln. Die Abkehr von der Schuldenbremse und das gigantische Schuldenprogramm für Bundeswehr und Infrastruktur tragen die Abgeordneten von CDU und CSU grummelnd, aber ohne Überzeugung mit. Bei der Wahl zum Bundeskanzler Anfang Mai stellt ihm ein Teil die Quittung aus: Merz fällt im ersten Wahlgang durch. Noch keinem seiner Vorgänger war das passiert. Versteinerte Mienen im Reichstag. „Merkels Rache“, wird im Plenarsaal gelästert. Die Alt-Kanzlerin und ewige Rivalin verfolgt die Abstimmung von der Zuschauertribüne aus.
Merkel hat die Dinge vom Ende her gedacht, so wird es in Berlin erzählt. Daraus folgt ihr abwartender, lauernder Politikstil und zähe Kompromisse. Auch die Kanzlerin sprang einige Male: Atomausstieg, Ende der Wehrpflicht, offene Grenzen für Flüchtlinge. An ihrer Migrationspolitik wäre beinahe das Band zwischen CDU und CSU zerrissen. Doch Merkel regierte 16 Jahre, Merz ist gerade drei Monate im Amt – und überstrapaziert die Geduld seiner Abgeordneten.
Waffenlieferstopp nach Israel: Die Kritik aus der CSU an CDU-Kanzler Merz ist massiv
Besonders aus der CSU dringen am Wochenende außergewöhnliche Worte nach draußen. Die Verstimmung muss wirklich groß und tiefgehend sein, wenn solche Worte den Weg in die Öffentlichkeit finden, zumal sie sich direkt gegen Merz richten. „Falsche Symbolpolitik“ und „nicht sehr clever“, sagt etwa der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Mayer in einem Interview. Ein weiterer prominenter CSU-Politiker, Klaus Holetschek, nimmt ebenfalls kein Blatt vor den Mund. Im Gespräch mit unserer Redaktion wird der Fraktionsvorsitzende der CSU im Landtag und frühere bayerische Gesundheitsminister mehr als deutlich: „Es ist ganz offensichtlich, dass diese Entscheidung des Kanzlers bei vielen in der Union auf erheblichen Widerstand stößt. Auch ich halte den Waffenstopp für einen Fehler mit fatalen Folgen“, sagt er. Klarer kann man Kritik nicht formulieren.
Von anderen christsozialen Spitzenpolitikern ist dagegen auffallenderweise nichts zu hören, weder von CSU-Parteichef Markus Söder noch von dessen Generalsekretär Martin Huber. Eine Anfrage nach einer Stellungnahme bleibt unbeantwortet. Söder sei angesichts von Merz' Alleingang stinksauer, heißt es hinter den Kulissen, aber öffentlich lässt er nur seine Parteifreunde poltern. Der Ministerpräsident beginnt den Samstag zunächst mit zwei Eiern, einer Tasse Kaffee und einer kleinen Flasche Wasser. Er ist auf dem Weg zur Eröffnung der Allgäuer Festwoche und legt zuvor eine Frühstückspause in einer Kemptener Bäckerei ein. Beim Festakt wenig später in der Innenstadt spricht Söder dann über die Schönheit des Allgäus, über Heimatverbundenheit und Leistungsbereitschaft und dass er den Käse aus der Region schätzt, was sich umgehend auf seinem Instagram-Kanal fotografisch niederschlägt. Aber zu Friedrich Merz: nichts.
Dafür verweist Ludwig Spaenle, Bayerns Antisemitismusbeauftragter – der lange Jahre die CSU als Landtagsabgeordneter und als Kultusminister prominent vertrat – darauf, dass Parteiübervater Franz Josef Strauß die Waffenbrüderschaft mit Israel einst besiegelt hatte. Daran zu rütteln, ist also ein Sakrileg. Und eine schärfere Kritik aus Reihen der CSU lässt sich kaum denken. Wie Friedrich Merz solche Wortmeldungen aus dem Freistaat aufnehmen mag?
Die Botschaften, die ihn von dort erreichen, sind jedenfalls unmissverständlich. Ein Seitenhieb nach dem anderen. CSU-Fraktionschef Holetschek erinnert in Richtung des Kanzlers daran, dass erst kürzlich im Bayerischen Landtag fraktionsübergreifend von CSU, Freien Wählern, Grünen und SPD zusammen mit Landtagspräsidentin Ilse Aigner und dem Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten die Gründung eines Bayerisch-Israelischen Freundeskreises beschlossen worden sei. Die bayerisch-israelische Freundschaft gehe über Worte hinaus und gehöre „zu unserer politischen DNA“. Auch als Landtagsfraktion werde man sie aktiv einfordern.
Nach 100 Tagen im Amt fällt es da nicht leicht zu sagen, ob CDU und CSU schwerer am Kanzler tragen als die Koalitionspartner der SPD. Merz hat ihnen das Kanzleramt entrissen, aber eine Sehnsucht nach Ex-Kanzler Olaf Scholz gibt es nicht. Bloß nie wieder wie unter der Ampel, lautet das Mantra der Sozialdemokraten. Wenn je ein Zauber des Anfangs bei Schwarz-Rot zu spüren war, ist er bereits verflogen. „Vielleicht fragen sich einige von Euch, wie belastbar diese Koalition überhaupt noch ist, wenn sich der andere Partner nicht an Absprachen hält“, schreibt Fraktionschef Matthias Miersch in einem Brief an die SPD-Abgeordneten. „In dem Zustand, in dem sich die Koalitionsfraktion bei der Richterwahl präsentiert hat, ist diese Frage berechtigt.“
Zweifel an Zustand und Verlässlichkeit der Regierung haben nicht nur die Parlamentarier. In einer frischen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Insa für die Bild-Zeitung sagten 60 Prozent, dass sie mit der Arbeit der Regierung unzufrieden sind, nur 27 Prozent gaben sich einverstanden. Ähnlich steht es um die Beleibtheit des Bundeskanzlers: Nur 30 Prozent finden seine Arbeit gut, 59 Prozent sehen sie kritisch. Laut Bild stand Olaf Scholz nach drei Monaten im Amt besser da als Merz. Dabei hatte der versprochen, schon im Sommer sollten die Deutschen spüren, dass es aufwärtsgeht.
In seiner Fraktion ist Merz die Mehrheit nicht sicher
In der Zustimmung zu Merz gab es immer wieder kurze Zwischenhochs. Beispielsweise als er den Trump-Test im Weißen Haus bestand. Die Angst im Kanzlerstab war groß, dass der US-Präsident den Gast aus Deutschland ähnlich erniedrigen würde wie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Doch Trump kann mit Merz. Er schenkt dem Hobbypiloten im Weißen Haus eine Patenturkunde der Gebrüder Wright, den Pionieren der Luftfahrt. Erleichtert und gelöst schlendert Merz nach dem Treffen am Lincoln-Denkmal zum Interview mit deutschen Fernsehsendern. Außenpolitisch hat er Berlin zurück auf die Landkarte in Brüssel geholt. Wegen der Zerstrittenheit der Ampel waren die Enthaltungen der Bundesregierung, das „German Vote“, bei den europäischen Partnern berüchtigt. „Germany is back“, hat Merz mehrfach ausgerufen. Er kümmert sich um die kleineren EU-Länder, reist ins Baltikum und zu den Skandinaviern. Sie spiegeln ihm: Wir fürchten im Angesicht eines aggressiven Russlands deutsche Passivität mehr als deutsche Führung. Seine politische Karriere hat der Bundeskanzler im EU-Parlament gestartet, als der Eiserne Vorhang in Europa fiel. Die Begeisterung für den Wiederaufbau des Kontinents hat er nicht vergessen. „Kümmert Ech um die Kleinen“, war der Ratschlag von Altkanzler Helmut Kohl.
Was Regierungschefs meist im Laufe ihrer Amtszeit vorgeworfen wird, das erreicht Friedrich Merz nach 100 Tagen, hauptsächlich, dass er sich aus den Mühen der Innenpolitik heraushalte und sich auf die Auftritte auf der Weltbühne konzentriere. Im Falle Israels überlappen sich beide Bereiche, weil die Unterstützung des Landes unmittelbar mit dem Selbstbild der Bundesrepublik nach der Barbarei der Nationalsozialisten verknüpft ist. Außenpolitisch steht Merz mit seiner Entscheidung im Mehrheitslager der Staatengemeinschaft. Auch die Mehrzahl der Deutschen ist der Ansicht, dass Israel im Gaza-Streifen viel zu weit gegangen ist. Nur in seiner Fraktion ist ihm die Mehrheit nicht sicher. So war es an Tag eins seiner Kanzlerschaft, so ist es 100 Tage danach.
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